- Marvin Maly aus Essen ist 24 und macht keine gewöhnliche Ausbildung. Er wird Binnenschiffer.
- Ein Knochenjob: Harte körperliche Arbeit – wochenlang von Zuhause weg – dazu kaum Privatsphäre.
- Marvin träumt davon, selbst einmal Kapitän zu werden.
Morgens um 6.30 Uhr ist der Duisburger Binnenhafen noch ganz in Dunkel gehüllt. Die riesige Containerlandschaft liegt still, alles scheint noch zu schlafen. Nur am Ankerplatz ganz am Ende der Anlage zerreißen kraftvolle Motorengeräusche die Stille.
Auf dem Deck der „Orca“ herrscht bereits Vollbetrieb. Funkgeräte rauschen und Befehle werden gerufen, während der rund 110 Meter lange Tanker im Takt des Rheins sanft auf und ab wippt. Fünf Menschen, deren Schwimmwesten in der Morgendämmerung reflektieren, sind über die Reling gelehnt und bedienen presslufthammerartige Maschinen.
Zwei Wochen Schicht, zwei Wochen frei
Knapp anderthalb Stunden später wird es noch lauter. Der Boden der „Orca“ vibriert, als der Motor aufheult. Knapp 800 Tonnen setzen sich in Bewegung und der größte Binnenhafen der Welt schrumpft immer weiter, bis er wenig später komplett aus dem Blickfeld verschwindet.
Mittlerweile ist es hell geworden. Der Duft von angebratenem Schweinefleisch liegt in der Luft. „Das, was wir heute Morgen gemacht haben, nennt sich Koppeln und ist der Hauptbestandteil unserer Arbeit“, sagt Marvin Maly und kippt zahllose Kartoffeln in einen Topf, der von der Größe her auch als Regentonne dienen könnte.
Der stämmige, aber sympathisch grinsende Anfang-Zwanziger mit Soldaten-Frisur ist mitten im Dienst. Wenn alles nach Plan läuft, darf er sich ab Sommer 2020 Matrose nennen. Er macht eine Lehre zum Binnenschiffer – eine Ausbildung mit Seltenheitswert. Gearbeitet wird in 14-Tage-Schichten. Bedeutet: Zwei Wochen weg von Zuhause, dazu kaum Freizeit. Doch was für viele undenkbar scheint, ist für Marvin kein Problem. „Ich war schon immer eher der extreme Typ. Lieber reiße ich mir zwei Wochen den Arsch auf und kann dafür dann zwei Wochen relaxen.“
Bei Wind und Wetter draußen
Auch wenn der 24-jährige Urlaub hat und nicht an Board ist – die „Orca“ steht nie. Sie fährt 365 Tage im Jahr. Immer dieselbe Strecke: Duisburg, Rotterdam. Rotterdam, Duisburg. Und wieder von vorne. 13 Stunden hin, 26 Stunden zurück. Klingt eintönig, sei es aber nicht, beteuert Marvin. Immerhin war die Vielseitigkeit der Arbeit, neben der überdurchschnittlichen Ausbildungsvergütung, ein Hauptgrund für Marvins Entscheidung.
Gearbeitet wird überwiegend draußen, also an Deck. Und das bei Wind und Wetter. Außer man hat, wie Marvin heute, Küchendienst. Die Besatzung besteht aus zwei Kapitänen, zwei Steuermännern, einem Maschinist und drei Matrosen. Damit alle satt werden, hat Marvin am Vorabend zwei Kilo Schweinefilet aufgetaut. Dazu gibt es Kartoffeln und Speckbohnen.
Weihnachten, Geburtstag oder Silvester? „Macht keinen Spaß“
Der gebürtige Essener mag den Küchendienst. So bleiben ihm die schweißtreibenden Reinigungsarbeiten an Deck oder im Maschinenraum erspart. Doch Kochen für eine ganze Besatzung, das ist aufwendig. Die Vorbereitungen laufen jetzt schon auf Hochtouren, obwohl erst in zweieinhalb Stunden, um elf Uhr, gegessen wird. „Es ist halt was anderes, als wenn man nur für sich alleine sorgt.“ Marvin hat sich allerdings verspekuliert. Er ist schon deutlich früher fertig, als geplant. So kommt er nicht drum herum, seinem niederländischen Matrosen-Kollege Jaan, an Deck beim Streichen zu helfen.
Im Winter steht die Wartung der Maschinen auf dem Plan, dagegen wird im Sommer täglich gepinselt, gefeilt und geputzt. Das ständige Tragen von Schwimmweste, Sicherheitskleidung und Funkgerät verkompliziert das Ganze – ist aber Pflicht. Sicherheit wird nun mal groß geschrieben. Neben regelmäßigen Drogen- und Belastungstests gilt eine Null-Toleranz-Grenze für Alkohol. „Da kann man sich vorstellen, dass Geburtstage, Weihnachten oder Silvester auf dem Schiff nicht wirklich Spaß machen“, sagt Jaan mit holländischem Akzent und tunkt den Pinsel in den Eimer mit weißer Farbe.
Dem Captain schmeckt es nicht
Pünktlich um elf Uhr gibt Marvin Anweisung über Funk: „Essen ist fertig!“ Jeden Tag speist die Crew drei Mal zusammen, viel gesprochen wird in der geräumigen Gemeinschaftskajüte nicht. Dafür ist der Hunger zu groß. Nur Kapitän Gerald Albers schmeckt es nicht wirklich. Er mag Bohnen, aber keinen Speck und ist über weite Strecken damit beschäftigt, Fleisch und Gemüse voneinander zu trennen.
Dann erklärt er augenzwinkernd: „Koppeltage wie heute sind sehr anstrengend und machen besonders hungrig.“ Das sogenannte Koppeln ist die eigentliche Arbeit auf dem Schiff – und den Gesichtsausdrücken von Marvin und Co. zur Folge nicht wirklich beliebt.
16 000 Tonnen pro Tour
Denn die Ladung wird nicht auf dem Schiff selbst transportiert, sondern ähnlich wie bei einem LKW in Anhängern vor dem Bug befestigt. 16 000 Tonnen Kohle bringt die „Orca“ bei jeder Tour von Rotterdam nach Duisburg – und macht sich dann, wie heute, ohne Ladung auf den Rückweg.
Bei jeder Hafenankunft muss die Crew die Anhänger in einer komplizierten Prozedur entweder befestigen oder lösen. Das dauert um die zwei Stunden. Das Hauptproblem: Egal, zu welcher Zeit das Schiff im Hafen einläuft – es muss immer gekoppelt werden. Auch außerhalb der eigentlichen Arbeitszeiten von sechs bis 17 Uhr. Heute morgen hätten sie Glück gehabt, berichtet Marvin. „Da mussten wir nur eine Stunde vor Schichtbeginn raus. Aber wenn wir um drei Uhr Nachts ankommen, ist das schon ärgerlich.“
Privatsphäre Fehlanzeige
Nach dem Essen ist Marvin fürs Aufräumen und Spülen verantwortlich. Während die Spülmaschine durchläuft, präsentiert er seine Schlafkajüte im Schiffsbauch. Zusammen mit Jaan haust er im Hochbett auf acht Quadratmetern – Privatsphäre Fehlanzeige. Ein aufgeräumter Schrank und eine leere Tischecke verbreiten zusätzliches Knast-Flair.
Obwohl alle Besatzungsmitglieder gut miteinander auskommen, zieht sich jeder nach dem gemeinsamen Abendessen um 17 Uhr zurück. Marvin: „Wenn man zwei Wochen am Stück aufeinander hängt, weiß man ein bisschen Ruhe sehr zu schätzen.“ Während Jaan abends liest oder sich mit seinem Handy beschäftigt, spielt Marvin meistens „Fortnite“ am Laptop.
Traumberuf Kapitän
Kurz vor dem Abendessen geht es mit Marvin hoch auf die Brücke ins Steuerhaus. Dort sitzt Kapitän Albers inmitten eines Gewirrs aus Knöpfen, Hebeln und Radaranzeigen auf einem pompösen Drehstuhl und steuert das Schiff.
Kapitän – das ist für Marvin ein absoluter Traumberuf. Und einer mit Zukunft: Nur rund 4500 Deutsche sind in der Binnenschifffahrt tätig. Da stehen die Chancen günstig, die Karriereleiter schnell nach oben zu klettern. Doch zuvor zieht er im Spätsommer für drei Monate auf ein Schulschiff in Duisburg. Karten lesen, Seemannsknoten oder Motorenlehre – dort lernen die Azubis alles, was ein Binnenschiffer wissen muss.
Nach Feierabend zieht sich die Besatzung zurück. Marvin will ein Nickerchen machen. Schließlich wird das Schiff gegen 24 Uhr in Rotterdam eintreffen. Dann steht Koppeln auf dem Programm.
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