Wenige Meter von mir entfernt zieht plötzlich ein Kamin aus Dampf heraus – aus einem Fahrrad. Es riecht intensiv. Nicht etwa nach Rauch, viel mehr zieht sich das Aroma einer Gemüsesuppe in jeden Winkel meiner Umgebung. Schaue ich mich um, entdecke ich ein geordnetes Chaos. „Haben wir noch irgendwo Unterhosen?“ schreit es plötzlich aus der linken Ecke in die Garage hinein. Eine große blaue Plastiktüte fällt in die Hände einer farbenfroh gekleideten Frau. „Die beschissenen Feinripp Dinger will doch niemand anziehen“. Das Gelächter ist groß.
Ich stehe vor einer Garage in der Essener Innenstadt. Der Wind peitscht mir minütlich neue Regentropfen ins Gesicht. Jede Böe lässt die Haut kälter, die Jacke nasser werden. Ein typischer Herbsttag im Ruhrgebiet. Stereotypisch liege ich an solchen Tagen sonst auf der Couch, schaue Serien oder erledige Liegengebliebenes.
Heute begleite ich die Freiwilligen der Initiative „Essen packt an“. Ich möchte mehr über ihr Engagement in der Obdachlosenhilfe erfahren. Jeden Samstag verteilen die Helfer warme Suppe, bei Bedarf auch wetterfeste Kleidung an die Bedürftigen. In den Wintermonaten wird das Prozedere auch an Dienstagen wiederholt.
In einer unscheinbaren, grau lackierten Garage der Mechtildenstraße werden alle Vorbereitungen für die abendliche Tour durch die Innenstadt getroffen. Früh lerne ich Petra kennen. Neben mir packt sie eineHandvoll blauer Zahnbürsten in einen Rollwagen mit fünf Schubladen. In der Ebene darunter liegen kleine Rasierer, Kondome und Zahnpasta. Alle Einheiten sind bis zum Anschlag gefüllt.
Petra scheint die Ordnung an ihr selbst ebenso zu mögen. An ihrer Jacke heftet ein Button mit der Aufschrift „No Hate“. Sie trägt lila, viel lila – ein farblicher Sonnenschein in der sonst so monotonen Wettertristesse. Lila Gummistiefel, lila Jacke, dazu einen lila gestreiften Rock.
„Auf der Straße hast du keine Freunde.“
Ich trete einige Meter von der Garage weg und komme ins Gespräch mit einem bärtigen Mann. Er trägt eine beige Jacke, darüber ein grünes Leibchen. Die Schrift „Essen packt an“ auf der Rückseite ist schon leicht verblast. Warum er sich engagiert, möchte ich wissen. Er war selbst obdachlos. Vergangene Sommer hat der gebürtige Bremer fünf Wochen auf den Straßen des Ruhrgebiets gelebt.
„Es ist wertvoll, dass es Menschen gibt, die sich einsetzen und dir einen Schub in die richtige Richtung geben“, erzählt mir Sebastian. Ich fange an zu verstehen, dass die seelische Hilfe einen ebenso großen Teil einnimmt, wie die materielle. Nahrung wird zum Leben gebraucht, genau wie Gespräche, Aufmerksamkeit und Zuneigung.
„Am Anfang ist es schwierig, mit einzelnen Schicksalen umzugehen, doch auf der Straße hast du keine Freunde, denen du was erzählen kannst.“, erzählt mir auf dem Weg zur ersten Station der abendlichen Route.
Am Pferdemarkt angekommen, geselle ich mich zu einem Gespräch von Petra und Sebastian. Neben ihnen steht ein auffällig junger Mann – obdachlos, wie mir die Fülle seines Gepäcks verrät. Er trägt eine graue Jacke mit schwarzen Streifen, darunter einen Pullover, dessen Mütze er bis über seine Brauen gezogen hat. In der linken Hand zittert er derweil mit einem Becher dampfendem Kaffee, den ich mit jedem Atemzug intensiver wahrnehme.
Ich folge dem Gespräch interessiert. Sekündlich stellen sich mir dabei neue Fragen. Mit 28 Jahren obdachlos auf der Straße, wie geht das? Was denken seine Eltern und Familie darüber? Im Gespräch übernehme ich jedoch erst einmal die Rolle des stillen Beobachters. Wie arbeiten Streetworker in solchen Situationen und welche Worte sind die richtigen, um Menschen einen Schub in die richtige Richtung zu geben?
Der junge Mann verrät schon zu Beginn seinen Namen: Lukas. Rasch erzählt er uns seine Geschichte. Er artikuliert sehr hektisch. Mal kommen die Gesprächsbrocken, wie mit einem Wasserfall aus ihm herausgeschossen. Im anderen Moment hält er lange inne. Doch eines wird mir schon zu Beginn klar: früh wurde der Pfälzer in den Strudel des Drogenmileus gezogen.
„Beim Wrestling darf man keine Drogen nehmen.“
Wohin sein Weg geht, weiß der junge Obdachlose selbst nicht. Doch ein großer Traum scheint sich in seinem Leben manifestiert zu haben: der des Wrestlers.
Sehr außergewöhnlich, dachte ich, ließ meine Verwunderung jedoch im Inneren. Vor kurzem hat er ein Probetraining absolviert, erzählt mir der 28-jährige mit stolzer Stimme. „Träume haben wir alle“, motiviert Petra ihn. „Doch beim Wrestling darf man keine Drogen nehmen“, mahnt sie. Schon länger ist Stefan abhängig und lebt nach eigenen Angaben erst seit wenigen Tagen auf der Straße. Er hat gelogen, wie sich später herausstellt.
Die einfühlsamen und motivierenden Worte scheinen dennoch bei dem hilflos wirkenden Mann zu fruchten. Lukas spricht von einer besseren Zukunft, seiner Zukunft. Um sein Leben zu ordnen, fehlt im jedoch eins: Halt. Finanzieller Halt. Familiärer Halt. Freundschaftlicher Halt. Dinge, die sich leichter aussprechen und schreiben lassen, als sie in die Realität übergehen. Petra spricht weiter mit großer Weitsicht zu dem jungen Mann, nahezu mütterlich: liebevoll, gleichzeitig aber hart und ehrlich. Für sie steht eines fest, sie möchte ihm helfen. Nach Rücksprache mit dem Schatzmeister der Initiative, schlägt sie Stefan einen Deal vor: sie kauft ihm ein Bahnticket zurück zu seiner Mutter in die Heimat, die Pfalz. Die Bedingung: Jetzt – nicht morgen, nicht übermorgen. Es muss der nächste Zug sein. Sie wollen sehen, wie Lukas einsteigt, um jegliches Risiko auszuschließen. Ein Moment indem er wieder einmal lange innehält. Ich hänge an seinen Lippen. Gefühlt dauert jede Sekunde doppelt so lange, wie normal. Dann schlägt er mit Handschlag auf den Vorschlag ein. Ich bin erleichtert, warum frage ich mich. Ich kenne diesen Mann seit 30 Minuten, wie emotional darf ich da überhaupt reagieren?
Zu viert begeben wir uns auf dem Weg zum Essener Hauptbahnhof. Eine Viertelstunde unterhalte ich mich mit Petra über den emotionalen Stress eines solchen Engagements und die verstrichene Freizeit. Das Gespräch ist so intensiv, dass ich schier gar nicht merke, dass wir längst im großen Bahnhofsgebäude angekommen sind. Plötzlich geht alles schnell: Lukas möchte nicht nach Hause. Seine Schwester wohnt angeblich im Essener Süden, dahin möchte er jetzt fahren. Eigentlich lebt er auch gar nicht auf der Straße und mit Drogen habe er ebenso lange schon keinen Kontakt mehr gehabt. Seine Aussagen widersprechen sich mit jeglichen Erzählungen aus vorherigen Gesprächen. Er verirrt sich im Labyrinth seiner eigenen Lügen und rennt weg.
„Solche Situationen sind schwierig, aber passieren nun mal“, reflektiert Sebastian wenige Sekunden nach der Flucht. Petra dagegen scheint das Schicksal des jungen Mannes mehr zu ergreifen – Wir laufen den Bahnhof ab, ebenso die bekannten Ecken der Obdachlosenszene, um Stefan ausfindig zu machen. Keine Spur. Er ist weggelaufen; vor sich, seiner Zukunft und seinem eigenen Traum.
Begegnungen wie diese zeigen mir eins: auf den Deutschen Straßen geht es um viel mehr, als den Kampf mit dem Sozialsystem, einen Schlafplatz oder krude Freundschaften. Es geht um das Wesentliche – dem Endgegner, um von der Misere der Straße zu entkommen: sich selbst.
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