Der Hauptbahnhof in Recklinghausen. Der Ort meines Praxistests.

 

  • Barrierefrei durch den Alltag: Der öffentliche Nahverkehr im Praxistest
  • Kaputte Aufzüge und nicht vorhandene Rampen sorgen für Probleme
  • Lösungen sind schwer zu finden

Es ist kalt und regnet. Ein typischer Herbstmorgen. Das die Kälte und das schlechte Wetter an diesem Tag nicht mein Hauptproblem sind, wird mir beim Blick in die Eingangshalle des Hauptbahnhofs in Recklinghausen schnell klar. Doch warum?

Um diese Frage zu beantworten und Euch die Hintergründe genauer zu erklären, ein paar Informationen zu mir selbst. Ich bin 21 Jahre alt und habe seit meiner Geburt eine Körperbehinderung. Hierbei handelt es sich um eine „Spastische Diparese“ – oder einfach erklärt: Eine Bewegungseinschränkung meiner Arme und Beine. In Folge dessen, ist zusätzlich mein Gleichgewichtssinn betroffen. Da bei mir allerdings nur eine leicht ausgeprägte Form der Körperbehinderung vorliegt, bin ich in der Lage kurze Wege zu Fuß zurückzulegen.


Ohne Aufzug wird der Weg zum Gleis zu einer unmöglichen Herausforderung.

Der tägliche Weg wird ein Hindernislauf

Wie viele junge Menschen im Ruhrgebiet mache ich mich auf dem Weg zu meinem Studienort nach Gelsenkirchen. Dabei nutze ich die öffentlichen Verkehrsmittel. Da ich in Oer-Erkenschwick lebe, bietet es sich an, ab Recklinghausen mit der Bahn zu fahren. Offensichtlich fällt bei mir die Nutzung der Treppe weg, daher bin ich auf den Aufzug angewiesen, der mich zu Gleis 1 bringt. Wenn der Aufzug nicht funktioniert stellt es für mich ein Hindernis dar. Meine zeitliche Planung und der gesamte Ablauf müssen umgestellt werden. Ein Alternativweg muss her. Also die Rampe hinter dem Haupteingang. Diese ist aber viel zu steil und mit einer schweren Tasche beladen, schaffe ich den Weg nach oben nicht.

Dabei wurde 2002 das Gesetz zur „Gleichstellung von Menschen Behinderungen“ (Behinderungsgleichstellungsgesetz – BGG) beschlossen. In §4 wird beschrieben was Barrierefreiheit bedeutet und wie diese auszusehen hat. Kurz gesagt: Jeder Mensch mit einer Behinderung egal ob körperlich, geistig, blind oder taub soll im Alltag allein und ohne Hilfe zurechtkommen. Jeder Mensch soll selbstständig sein.

Ohne fremde Hilfe wird es schwer

Aber zurück zu mir. Nun stehe ich dort, die Kälte in den Knochen und fühle mich wie ein Bergsteiger vor dem Aufstieg. Mir wird schnell klar, wenn ich die Bahn erwischen will muss ich hoch. Aus den Lautsprechern ertönt die Ansage: „Vorsicht bei der der Einfahrt des Zuges RE 2 Richtung Essen.“ Mir bleibt nur die Möglichkeit Passanten fragen. Keine Scheu Menschen anzusprechen und ein gesundes Selbstbewusstsein ist als Rollstuhlfahrer eine Grundvoraussetzung. Glücklicherweise erklärt sich eine Studentin aus Düsseldorf bereit und hilft mir nach oben. Sie berichtet mir, dass ihre Oma auf einen Rollator braucht und sie solche Probleme kennt. Daran ist erkennbar, dass Mobilität ein grundsätzliches Problem ist. Rollstuhlfahrer, Senioren mit einem Rollator, Familien mit Kinderwagen, Menschen mit schwerem Gepäck. Die Liste lässt sich beliebig fortführen. Was mich ärgert ist, dass mir die Selbstständigkeit, die man sich über Jahre erarbeitet hat, so genommen wird.

Die Außenrampe. Ohne fremde Hilfe geht hier nichts.

Der Einstieg in den Zug anschließend in den Bus funktioniert durch Rampen und helfende Kommilitonen gut. An der Westfälischen Hochschule, die als eine der wenigen Hochschulen auf vielen Portalen als rollstuhlfreundlich gilt, komme ich gut zurecht. Dafür sorgen Aufzüge und Rampen. Meine Freunde in der Hochschule habe ich versucht von Anfang an für dieses Thema zu sensibilisieren. Dass es das braucht wird mir vor allem bei der Rückfahrt deutlich.

Bis nach Münster und zurück

Der Zug Richtung Heimat führt mich bis nach Münster. Münster? Ja, denn auf dem Gleis, auf dem die Bahn hält, gibt es nur einen Aufzug oder 35 Treppenstufen um zum Ausgang zu gelangen. Letzteres ist aber der natürliche Feind eines Rollstuhlfahrers. Aus diesem Grund empfehlt die Deutsche Bahn bis Münster zu fahren, dort umzusteigen und zurück nach Recklinghausen zu fahren, weil dort die Rampe als Abfahrt genutzt werden kann. Nun geht es also knapp 60 Minuten nach Münster und dann 45 Minuten nach Recklinghausen. Mit Wartezeit eingerechnet beträgt der Zeitaufwand also 2 Stunden. Im Sommer bei hohen Temperaturen erträglich, bei Regen oder Schnee aber nicht wirklich angenehm.

Stufen stellen für mich ein großes Problem dar.

Neben der Selbstständigkeit geht aber im privaten Bereich noch ein wichtiger Bestandteil verloren. Spontanität. Freitagabend sich mit Freunden verabreden und zusammen den Start in das Wochenende genießen. Im Club feiern. Was für Fußgänger Normalität ist, muss ich planen. Wann fährt wo der Zug? Funktioniert der Aufzug? Gibt es Personal, das helfen könnte? Wenn man das weiß, alles kein Problem.

Um mich nicht darauf verlassen zu müssen, ob Passanten helfen werde ich seit einiger Zeit mit dem Taxi gefahren. Die Kosten für die anfallenden Fahrten übernimmt der Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Neben dem zeitlichen Vorteil macht es die Fortbewegung deutlich leichter. In meiner Freizeit habe ich zusammen mit meinen Freunden viele verschiedene Lösungen gefunden. Das macht mich froh und beruhigt.

Die Barrierefreiheit steckt in Deutschland noch in vielen Bereichen in den Kinderschuhen. Länder wie Schweden oder Finnland sind dort in der Entwicklung weiter. Aber Deutschland ist auf einem guten Weg. Wenn Ihr beim nächsten Mal eine Person seht, die Hilfe benötigt, fragt nach! Die meisten werden es Euch danken, denn für mich ist es nicht selbstverständlich. So ist es möglich, die vielen kleinen Barrieren im Alltag abzubauen…