• Ein neuer Rekord: mehr als 317000 Menschen pilgerten 2017 über den Jakobsweg
  • Wicky Chogh ist Student und auch er wählte diese altertümliche Reiseart, um wieder seine Mitte zu finden
  • Die Erfahrungen, die der 31-jährige dort gemacht hat, bringt er in seinen Alltag mit ein

Was war der Grund, warum du pilgern gehen wolltest?
Ich war jahrelang bei der Bundeswehr, habe dann mein Abitur nachgeholt und studiere nun Geschichte und Religionswissenschaften.
Da ich schon ein bisschen älter bin, habe ich den Anspruch, schnell mit meinem Studium fertig zu werden. Daher ist mein Alltag sehr stressig. Ich bin ein Mensch, der häufig unter Strom steht. Es wurde mir alles zu viel. Nach den Klausuren brauchte ich einfach mal Zeit für mich – wollte wieder meine Mitte zu finden. Da kam ich dann auf die Idee, den Jakobsweg entlang zu pilgern.

Dem stressigen Alltag entfliehen

Hast du auch an deinem Studium gezweifelt?
Das größte Problem war der Stress. Im ersten Semester hatte ich zehn Klausuren und zwei Hausarbeiten.
Ich musste dazu alle drei Wochen Hausaufgaben abgeben. Da gab es nur zwei Versuche. Alles stand dadurch auf dem Spiel und ich hatte wirklich oft Angst, dass es dann das Ende meines Studiums war. Das hat mir am meisten zugesetzt.


Wann bist du dann das erste Mal pilgern gewesen?
Das war dieses Jahr in den Semesterferien, im Februar. Zur Vorbereitung habe ich dann Bücher gelesen, Filme und auch Dokus angeguckt. Ich musste dann gucken, auf welchem der vielen Jakobswege es temperaturmäßig im Februar am besten passte. So bin ich dann den Via de Plata entlanggelaufen. Dort war um diese Jahreszeit gutes Wetter.

  

Wicky pilgert an einer Schafsherde vorbei (Foto: privat)

„Pilgern ist die Endstufe des nachhaltigen Reisens“

Hätte nicht auch ein ganz normaler Urlaub gereicht? Was ist der Unterschied?
Ich hatte in letzter Zeit immer mehr den Gedanken, dass Reisen nur noch für das Ego ist. Man postet dann ein paar Bilder auf Instagram, achtet nicht auf die Umwelt, fliegt weit weg. Pilgern ist ein schönes Zwischending. Es ist um die Ecke, in Spanien. Wenn du es nachhaltig machen möchtest, kannst du da auch mit dem Bus hinfahren. Danach geht es nur noch zu Fuß weiter. Ich bin ein sehr hektischer Mensch, immer unter Strom. Und es ist mir wichtig geworden, beim Reisen zu entschleunigen. Pilgern ist die Endstufe des nachhaltigen Reisens – und war damit genau richtig für mich.

Pause von dem langen Fußmarsch (Foto: privat)

Was für Menschen bist du während deiner Pilgerreise begegnet? Welche Beweggründe hatten die?
Das Interessante ist, dass die Menschen, die man trifft, alle in einer ähnlichen Situation sind. Entweder vom Partner getrennt, Job gekündigt worden, oder Ähnliches. Ich glaube, heute geht man den Weg kaum noch aus religiösen Gründen. Es geht heute mehr um Selbstfindung, Schicksalsschläge zu überwinden und andere Menschen kennenzulernen. Am zweiten Tag habe ich jemanden getroffen, der ähnliche Beweggründe hatte wie ich und auch früher bei der Bundeswehr war. Wir haben uns sofort gut verstanden und sind dann den Weg gemeinsam gelaufen, aber doch irgendwie auch alleine.

Was ist das Besondere am Pilgern?
Es ist eine natürliche Therapieform. Der Jakobsweg gibt dir, was du in dem Moment gerade brauchst. Das ist eine blöde Metapher, aber es gibt die ganze Zeit nur eine Aufgabe: hinter den gelben Jakobsmuscheln hinterherlaufen. Wenn du das bis zum Ende durchgezogen hast, findest du auch deinen eigenen Weg im Leben. Ich glaube, das ist der größte Grund, warum Menschen das machen.

Wie ist dann das Gefühl, in Santiago de Compostela anzukommen?
Beim Pilgern sind nur noch drei Sachen wichtig: Essen, Schlafen und Laufen. In der letzten Phase, kurz vor Santiago, ist das Ziel so nah. Danach gibt es keine gelben Pfeile mehr, die dir sagen, wo es langgeht. Das war dann auch nochmal eine schöne Möglichkeit, um zu reflektieren: bin ich auf dem richtigen Weg? Ist das Studium wirklich etwas für mich? Mache ich alles aus den richtigen Gründen?

Beeindruckende Landschaften entdecken (Foto: privat)

Zeit für die kleinen Dinge im Leben nehmen

Was hast du durchs Pilgern für deinen Alltag gelernt?
Weniger ist mehr. Ich habe versucht, das Prinzip Jakobsweg auf mein Leben zu projizieren. Ich könnte jetzt zum Beispiel an meine Bachelorarbeit denken, dann würde ich aber wahnsinnig werden. Meine Gedanken gelten also einfach meinen nächsten Klausuren. Ich versuche, mein Leben in Etappen zu sehen und mich nicht von dem großen Ganzen verrückt machen zu lassen. Alles Stück für Stück erledigen.
Durchs pilgern lebt man auch bewusster. Ich bin morgens bei Sonnenaufgang losgelaufen und kam in der Herberge bei Sonnenuntergang an. Ich versuche, solche kleinen Momente so oft wie möglich in meinen Alltag zu integrieren.

Hat dir das Pilgern auch deine Zweifel am Studium genommen?
Auf jedenfall. Alle 150 Kilometer gab es Geschichte zum Anfassen. Römische Monumente, Brücken und Bäder. Ich besuchte alte Kirchen, habe im Kloster geschlafen – da habe ich festgestellt, dass mich das alles wirklich sehr interessiert.
Ich weiß, wo ich mit meinem Studium hinwill und habe durchs Pilgern festgestellt, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Hier könnt ihr übrigens nachschauen, wie beliebt Pilgern in den letzten Jahren geworden ist: https://www.pilgern.ch/jakobsweg/statistik/