Mathay Acar brennt schon seit seiner Kindheit für die Rechtswissenschaften.Das beweist er sich aktuell jeden Tag aufs Neue, wenn er die überfüllten Hörsäle seiner Hochschule betritt und um einen der begehrten Sitzplätze kämpft. Und das alles nur wegen einer hochschulinternen Panne.

Von Lena Jüngermann

Es ist 09:55 Uhr. In knapp zehn Minuten beginnt für den achtzehnjährigen Mathay Acar die Vorlesung in Verfassungsrecht. Schnellen Schrittes hetzt der junge Mann entlang des Aasees auf der Bismarckallee in Richtung Aula der Hochschule. Die Straße ist von nassgeregnetem, buntem Laub bedeckt. Die Aula zählt inzwischen zu einem gewöhnlichen Seminarraum. In Folge einer technischen Panne wurden in diesem Jahr an der Universität in Münster knapp 1500 Studierende zu viel angenommen, allein 400 im Studiengang Jura. Die Folgen sind gravierend. Überfüllte Hörsäle, Mensen und Busse sind auch Wochen nach Semesterbeginn immer noch Alltag für die Studierenden. Links und rechts am Straßenrand reiht sich ein parkendes Auto an das Nächste. Von freien Parkplätzen keine Spur. „Da die Busse echt überfüllt sind, nutze ich gerne mein Fahrrad, aber einen freien Fahrradständer zu finden, Fehlanzeige“, sagt er mit einem Seufzer und zeigt auf den Fahrradständer vor sich.

Der Kampf um einen Sitzplatz

Das Verfassungsrecht zählt neben dem Strafrecht zu Mathays Hauptfächern im Studiengang Jura und ist damit eines der wichtigsten Fächer seines ersten Semesters. „Das Seminar in Verfassungsrecht ist immer gut besucht, da nicht nur die Jura-Studenten den Kurs belegen, sondern auch Kommilitonen anderer rechtwissenschaftlicher Studiengänge“, erklärt Mathay. Das sei ihm in dem ersten Seminar zum Verhängnis geworden. „Das Seminar musste ich vom Türrahmen des Hörsaals aus verfolgen, da es keine freien Sitzplätze mehr gab“, erinnert er sich. Aus diesem Grund ist er immer zehn Minuten vor Vorlesungsbeginn im Hörsaal. Zu groß sei die Sorge, die Vorlesung noch einmal ohne Sitzplatz zu verfolgen, erklärt er. Die Hochschule reagierte und teilte die Erstsemestler in zwei Gruppen ein. Die Vorlesungen der Hauptfächer und einiger Nebenfächer finden jetzt zweimal täglich hintereinander statt. Zum Nachteil von Acar, denn er hat zweimal in der Woche bis 20 Uhr eine Vorlesung. „Mein ganzer Stundenplan verteilt sich auf die Nachmittage, zweimal sogar in die späten Abendstunden. Das habe ich mir echt anders vorgestellt“, schimpft er.

Wenn selbst der größte Hörsaal nicht groß genug ist

Bereits im Foyer der Aula herrscht lautes Stimmengewirr, das bereits vermuten lässt, wie viele Studierende sich in der Aula befinden. Die Garderobenständer sind überfüllt mit Winterjacken. Schals wurden teilweise lieblos über die Ständer geworfen. In den Schirmständern tropfen bunte Regenschirme um die Wette. Erleichterung steht Mathay ins Gesicht geschrieben, als er die Aula betritt. Er setzt seine Kapuze ab und seine pechschwarzen, vom Regen zerzausten Haare kommen zum Vorschein. Sie unterstreichen seinen leicht gebräunten, südländischen Teint. Ein frischer Parfumduft zieht durch die Luft, als Mathay seine Jacke auszieht. „Heute sieht es gut aus mit einem Sitzplatz“, sagt er mit einem freundlichen Lächeln und lässt sich auf einen freien Stuhl fallen. „Wenn wir hier in Aula eine Vorlesung haben, bekomme ich Flashbacks von unserer O-Woche. Bei der Begrüßungsfeier haben viele Studenten auf dem Boden sitzen müssen, weil es so voll war. Da hat man schon ein bisschen Schiss gekriegt, dass das auch in den Vorlesungen so ist“, gesteht Mathay. Dabei gehört die Aula mit knapp 900 Sitzplätzen neben den drei H-Sälen im Juridicum, wie das Campusgebäude der Rechtswissenschaften genannt wird, zu den größten Räumlichkeiten der Universität in Münster.

Kindheitstraum Jurist

Auf der Bühne tippt der Professor wild auf der Tastatur seines Laptops herum, denn die Vorlesungen der Hauptfächer werden gestreamt und aufgezeichnet. Die Vorlesung beginnt. Der Geräuschpegel, der gerade noch dem eines Bahnhofsvorplatzes ähnelte, verstummt sofort. Konzentriert verfolgt Mathay die Vorlesung. Insgesamt 14 Semester dauert das Jura-Studium, aber bereits seit seiner Kindheit verfolgt Mathay den Traum, Staatsanwalt zu werden. Sein starker Gerechtigkeitssinn und das Interesse an rechtwissenschaftlicher Literatur haben ihn in seinem Vorhaben bestärkt. „Mit 12 Jahren habe ich eine kleine Justitia-Statue zum Geburtstag bekommen. Die steht heute noch auf meinem Schreibtisch“, erzählt er stolz. Nahezu akribisch notiert sich Mathay die wichtigsten Inhalte auf seinem Tablet, das auf dem Tisch vor ihm liegt. Sein Handy hat er während der gesamten Vorlesung keines einzigen Blickes gewürdigt. Ganz zu schweigen von den zwei Kommilitonen vor ihm in der Reihe, die bereits seit einigen Minuten tuscheln und kichern. Mathay räuspert sich sichtlich genervt. Es wird wieder still.

Panne ermöglicht Zulassung

Was als Kindheitstraum begann, wurde während seines Abiturs zur Vision, denn der Numerus Clausus für Jura ist hoch. In Münster lag dieser zuletzt bei 1,6, welchen Mathay mit seinem Abiturdurchschnitt von 1,7 nur leicht verfehlte. Er bewarb sich bei insgesamt acht Universitäten. Aufgrund der Nähe zu seiner Heimatstadt Gronau und dem guten Ruf des Jura-Studiums in Münster stand sein Favorit Münster schnell fest. Die Überraschung war groß, als Mathay den Zulassungsbescheid für seine Wunschuni erhielt. Glück im Unglück, dabei hätte er laut NC-Beschränkung der Münsteraner Hochschule keine Zulassung erhalten dürfen, denn die Notenanforderung von 1,6 hat er nicht erfüllt. „Als ich die Info über die Panne von der Hochschule erhielt, kam mir sofort der Gedanke, dass ich vielleicht davon profitiert habe und deshalb in Münster angenommen wurde“, erinnert sich Mathay. Über die Konsequenzen war er sich jedoch nicht bewusst. Lautes Geraschel und das vereinzelte Zurren eines Reißverschlusses sind zu hören. Die ersten verstauen ihre Laptops und Tablets in den Taschen. Es kommt Aufbruchsstimmung auf. Beim Blick auf die Uhr wird schnell klar, warum. Es ist 11:43 Uhr und die Vorlesung endet in zwei Minuten.

Wohnungssuche wird zur Massenabfertigung

Das er nicht der Einzige ist, der möglicherweise von der Panne profitiert hat, wurde ihm spätestens bei seiner Wohnungssuche bewusst. Knapp 300 Mitstreiter hatte er bei der Besichtigung eines Apartments in einem Wohnheim. Doch er hatte Glück und erhielt den Zuschlag. Viele seiner Freunde, die er in der O-Woche kennenlernte, habe es nicht ansatzweise so gut getroffen. Zeit für eine Mittagspause. Schon beim Betreten der Mensa heißt es erst einmal: Warten! Die Schlange an Studierenden ist so lang, dass es bereits im Eingangsbereich zu einem Stau kommt. Der Duft von orientalischen Gewürzen und frischem Basilikum liegt in der Luft. „Zum ersten Mal wurde mir das Ausmaß in der Orientierungswoche bewusst. Die Grünflächen um den Aasee herum waren voller Studenten, die gesellig in Kleingruppen zusammensaßen. Fast wie bei einem großen Konzert“, erzählt er. Das sei aber auch eine gute Gelegenheit gewesen, um neue Kontakte zu knüpfen, erinnert er sich. 

Dankbarkeit statt Frust

Etwa eine halbe Stunde dauert es, bis Mathay schließlich sein Essen hat. Es gibt Falafel und einen gemischten Salat. Ratlos schaut er sich in der Mensa nach einem Sitzplatz um, doch er ist nicht der Einzige. Weitere fünf Minuten vergehen, bis er einen freien Platz findet. Erleichtert lässt er sich auf den Stuhl fallen und beginnt zu essen. Trotz der täglichen Herausforderungen durch lange Wartezeiten in der Mensa oder überfüllten Hörsälen ist Mathay dankbar, an seiner Wunschuni studieren zu dürfen. „Ich hoffe, dass der Andrang an Studenten in den nächsten Wochen etwas nachlässt, wenn die Ersten anfangen, die Vorlesungen zu schwänzen. Dann wird’s für alle etwas entspannter“, sagt er mit einem Augenzwinkern. Er steht auf, denn seine nächste Vorlesung beginnt in einer Viertelstunde. Er möchte schließlich noch einen Sitzplatz bekommen.