Wer bin ich und wer möchte ich sein? Möglicherweise sucht jeder Mensch nach Antworten auf diese Fragen. Auch Amos beschäftigt sich damit. Und dann kommt noch die Frage nach der Geschlechtsidentität dazu. Nun nimmt uns Amos mit in eine Welt, in der das entweder keine Rolle oder vielleicht sogar die größte Rolle zu spielen scheint.

von Zoé von Langen

Ein Mensch läuft wie selbstverständlich und mit großen Schritten die Straße entlang. Seine Begleitung überragt der Mensch um fast einen halben Meter. Es ist dunkel, sie sind umgeben von lauten, feiernden Menschen. Regenbogenfarbene und pinke Neonlichter erhellen die Schaafenstraße, die queere Partyszene in Köln. Der Blick eines Feiernden bleibt an der großen, schlanken Person hängen. Zuerst fallen die 20 Zentimeter hohen, schwarzen High-Heels auf, die den Menschen darin noch größer werden lassen. Anschließend wandert der Blick nach oben, betrachtet das schwarz-funkelnden Paillettenkleid, das oberhalb der Knie endet und von einer dicken orangenen Winterjacke fast verschluckt wird.

Für den Betrachter verborgen versteckt sich unter dem Kleid ein enges Korsett. Das Gesicht wird von glitzerndem Lidschatten und langen Wimpern verziert. Neben dem auffallenden Bühnen-Make-Up trägt die Person eine kinnlange schwarze Perücke – und einen dunklen Bart. Von anderen Partygängern wird die Drag Queen angesprochen, für ihr Aussehen gelobt. Sie muss stehen bleiben, um mit ihnen Bilder zu machen. „So Kinners, wir gehen rein!“, sagt sie und klatscht in die Hände, woraufhin die Umstehenden lachen. Daraufhin verschwindet die Queen mit ihrer Begleitung in einem Club, von dem sie gebucht wurde. Das Konzept dahinter: durch die auffallende Party Queen sollen Feierwütige in den Club gelockt werden. Dort sorgt sie für Partystimmung, indem sie mit den Leuten tanzt und diese unterhält.


Was ist Drag?

Drag ist eine Kunstform, bei der Künstler*innen durch Kostüme, Make-up und ausgefallene Frisuren Geschlechterstereotypen übertreiben oder brechen. Drag Queens sind häufig Männer, die sich in weibliche Charaktere verwandeln. Sie treten meistens in Clubs, Bars oder auf Bühnen auf und können ihre Talente in den Bereichen Gesang, Tanz und Comedy zeigen. Das Pendant zu Drag Queens sind Drag Kings, die männliche Stereotypen überspitzt darstellen. Generell kann Drag unabhängig vom soziobiologischen Geschlecht der Person ausgeübt werden. Während Drag von manchen als reine Unterhaltung betrachtet wird, spielt es eine wichtige Rolle für die LGBTQIA+-Community und soll Vielfalt und Selbstakzeptanz betonen. Kritik an Drag kommt vor allem aus konservativen Lagern. Aber auch Feministinnen, die sich dem „Trans exkludierenden radikalen Feminismus“ zugehörig fühlen, sehen Drag kritisch. Für sie kann Drag ein weiteres Instrument des Patriarchats sein und Drag Queens eine ins Lächerliche gezogene Karikatur von Frauen bedeuten. Denn im Gegensatz zu Frauen, die für Gleichberechtigung kämpfen, können Männer das „Kostüm“ wieder ablegen und von ihren vorherigen Privilegien profitieren.


So sieht Amos‘ Abend an einem Wochenende im November aus. Er ist 21 Jahre alt und als Drag Queen „Trashy Gorgeous“ bereits seit gut einem Jahr fester Bestandteil der queeren Szene in Köln.

Auffallende Lidschattenfarben und Glitzerpartikel – das macht Trashys Make-up aus.

Auf dem Weg zu Drag und zu sich selbst

Wie vermutlich bei vielen anderen, hat das Experimentieren bei Amos früh angefangen. „Ich habe schon immer gerne mit Make-up gespielt“, erinnert er sich zurück. Mit 15 Jahren machte er dann eine Ausbildung zum Friseur und ist diesem Beruf bis heute treu geblieben. Ursprünglich kommt der 21-Jährige aus einem kleinen 60-Seelen-Dorf in Bayern. Dort hat er das Glück, viele starke Frauen in seiner Familie zu haben, die ihn so akzeptieren, wie er ist. „Ohne sie wäre ich sicher nicht an dem Punkt, an dem ich heute bin“, sagt Amos mit Nachdruck. Durch die Sozialen Medien und das Fernsehen ist er dann auf das Konzept „Drag“ gestoßen, hat sich an Vorbildern wie Olivia Jones orientiert. Schlussendlich ist der gelernte Friseur nach Köln gezogen, um in seinem Beruf weiterzukommen und Neues zu lernen.

Seit ungefähr sechs Jahren arbeitet Amos schon als Friseur. Er mag es, seine Kund:innen durch die neuen Looks zum Strahlen zu bringen.
Foto: Zoé von Langen

Seine Drag-Persönlichkeit hat er dann auch in der großen Stadt entdeckt. Vor ungefähr zwei Jahren. „Ein Freund von mir hat eine ,Stars und Sternchen‘-Party veranstaltet. Ich habe damals schon meinen dunklen Bart getragen und mich dann entschieden, als die österreichische Sängerin Conchita Wurst zu gehen“, beschreibt der Wahl-Kölner die Geburtsstunde von Trashy Gorgeous, zu deren Look eben auch der Bart gehört. Eine Seltenheit in der Drag-Szene. Was somit zunächst als Verkleidung angefangen hat, wurde für Amos das Markenzeichen. „Ganz am Anfang sah ich allerdings echt nicht gut aus. Daraus setzt sich auch mein Name zusammen. Trashy, weil nun mal Trash.“ Den Zusatz „Gorgeous“ hat er dann von seinem Umfeld bekommen, da er dabei dennoch eine „so schöne Energie“ ausgestrahlt habe.  

Sein bester Freund Tobias sieht auf jeden Fall eine Veränderung zu dem Amos von früher: „Er war schon immer selbstbewusst, aber ich habe jetzt mehr das Gefühl, dass er zu sich selbst gefunden hat. Und dabei ist es verrückt, was er alles erreicht hat.“ Amos könne nun eine andere Seite, eine femininere Seite zeigen, die er sonst vielleicht unterdrücken würde. Durch Trashy hat Amos andere Gleichgesinnte aus der Kölner Community kennengelernt und sich dort einen Namen gemacht. Mittlerweile geht er nur noch in Drag feiern und wird schon als „Kölner Conchita Wurst“ gehandelt.

Es ist ein langer Prozess, bis Amos zur Drag Queen Trashy Gorgeous wird. Zwischen zwei bis fünf Stunden kann es dauern. Das Make-up muss für Fotos perfekt sitzen und darf die ganze Partynacht über nicht verlaufen.
Foto: Zoé von Langen

Für Amos ist Drag jedoch noch ein Hobby, ein sehr teures Hobby, wie er lachend sagt. Ein komplettes Outfit mit Schmuck und Make-up kann dann schon mal gerne über hundert Euro kosten. „Das teuerste sind aber die Nägel“, meint Amos. Diese klebe er sich jedes Wochenende neu auf. Seine Outfits mache er größtenteils selbst, um Geld zu sparen.

Aber eigentlich ist Drag für Amos noch mehr als ein Hobby: „Für mich ist es ganz klar eine politische Form der Kunst. Ein Spiel mit Männlichkeit und Weiblichkeit. Ich meine, was bedeutet Geschlechtszugehörigkeit eigentlich, wenn ich mir als Mann einfach falsche Brüste und riesige Polster als Hüften anziehen kann und das war´s?“ Amos Nasenflügel blähen sich beim Sprechen. Man merkt, dass er sich viele Gedanken gemacht hat, sehr reflektiert mit dem Thema umgeht. Und ihn die Geschlechterstereotypen und die Frage nach seiner Sexualität nerven. Oft wiederholt er einen Spruch seiner Uroma, der ihn schon früh prägte. Sie habe immer gesagt: „Es ist mir egal, was du zuhause in deinem Schlafzimmer machst, das willst du ja auch nicht von mir wissen.“ Eine weitere Frau in seinem Leben, die ihn zu dem gemacht hat, der er heute ist.

Seine Drag-Outfits lagert Amos in seinem Kellerabteil. Von den Perücken bis zu den Kleidern und Make-up ist alles vorhanden. Hier hält er seine Hüftpolster in der Hand.
Foto: Zoé von Langen

Ein riskantes Hobby

Er möchte in Ruhe gelassen werden und so leben, wie er ist. Dabei grenzt er sich von Fetischisierungen ab: „Selbst, wenn ich wollte – sich aus drei Strumpfhosenlagen und dem Korsett rauszuschälen, das macht keinen Spaß und eignet sich für mich nicht für einen Fetisch.“ Stattdessen betont Amos, dass er anderen mit seiner Offenheit helfen möchte. Er will ihnen zeigen, dass sie so sein können, wie sie sein wollen: „Die Leute sehen Trashy und haben das Gefühl mit mir sprechen zu können. Aus irgendeinem Grund öffnen sie sich mir als Drag Queen eher.“ Außerdem erklärt er, dass ihm die Aufmerksamkeit gefalle, „die man dabei bekommt“. Hier gehe es ihm aber darum, diese im „richtigen Kontext“ zu nutzen – sich selbst ein „Standing zu erarbeiten, um anderen Menschen helfen zu können“. So geht Amos beispielsweise als Partyqueen den Weg von zu Hause auf die Schaafenstraße zu Fuß und möchte anderen damit zeigen, dass Drag etwas Normales sein kann und „es nicht gefährlich ist“.

Allerdings ist er als Trashy trotz seines Selbstbewusstseins nicht vor Anfeindungen geschützt: „Ich muss immer damit rechnen, beleidigt oder bespuckt zu werden. Im Sommer wurde ich sogar einmal mit Tierurin besprüht.“ Seiner Begleitung erklärt Amos genau, wie er oder sie sich bei Anfeindungen verhalten soll: „Ich sage dann immer: einfach ignorieren und weiter gehen. Im Ernstfall aber die Polizei rufen.“ Gerade für seine Mutter und seine Freund:innen, mit denen er unterwegs ist, ist das oft sehr schwer. „Aber auch daran sieht man, wie viel noch zu tun ist. Dass immer noch nicht genug Akzeptanz geschaffen wurde,“ meint Amos. Sicher fühle er sich dennoch einigermaßen auf seinem Weg: „Das liegt an den Türstehern, falls etwas ist, dann helfen die mir.“  Und das kann zu einem Win-Win für beide Seiten werden.

So meint Can, der Türsteher eines Clubs auf der Schaafenstraße: „Es ist super, wenn Trashy da ist. Wenn sich irgendein betrunkener Clubbesucher mit mir streiten will, dann kommt sie dazu und kann das mit ihrer herzlichen Art deeskalieren. Auf Trashy hören die Leute eher als auf mich als Türsteher.“

Amos meint, dass in jedem Menschen ein bisschen Drag steckt: „Ich glaube wir sind alle gesellschaftlichen Zwängen aufgelegt und versuchen diese zu brechen, sei es in den eigenen vier Wänden oder in der Öffentlichkeit.“ Amos steht dafür ein, dass jeder und jede „auf eine gesunde Art und Weise“ so leben kann, wie er oder sie möchte und, dass niemand dafür verurteilt wird. Denn durch Vorurteile, so argumentiert Amos, blockiere sich nur jeder und jede selbst und das „hat keinen Wert.“