Warum ich nie wieder mit der Bahn in die Uni fahre

Ich bleibe kurz stehen, als ich das Straßenschild „Neidenburger Straße“ erblicke. Ich schnaufe durch und wische mir eine Schweißperle von der Stirn. Es ist vorbei. Ich merke, wie sich mein Puls zu stabilisieren scheint und gleichzeitig ein Adrenalinstoß meinen Körper durchläuft. Ich habe es geschafft. Ich bin mit Bus und Bahn zur Uni gefahren.

Was für viele Menschen tagtäglich normal ist, ist für mich ein Alptraum. Der Alptraum ÖPNV. Ich habe nämlich Angst vorm Bahnfahren. Es ist nicht so, dass ich eine Keimphobie hätte und mir täglich hunderte Male die Hände wasche. Aber in Bussen und Bahnen kann ich diese Menschen verstehen. Vielleicht ist das Wort Angst auch zu viel, aber übertriebener Ekel passt auf alle Fälle. Ich ekle mich vor allem, was in öffentlichen Verkehrsmitteln auf einen wartet. Die Sitze, die Fenster, die Griffe, die Stangen, auch die mir unbekannten Menschen. Und das obwohl mein Vater Straßenbahnfahrer ist – seit mehr als 25 Jahren in Düsseldorf bei der Rheinbahn. Vielleicht aber auch gerade deswegen. Denn über die Jahre erzählte er immer wieder seine Horrorstorys über seinen Alltag. Nun habe ich mich entschlossen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Uni zu fahren. Inklusive dreimal Umsteigen. Netto-Zeit, die ich unterwegs sein werde: knapp zwei Stunden. Es ist eine Überwindung. Zumindest für mich.

So sehen die Sitze in der Essener U-Bahn aus. Eine Qual für unseren Autor.

Der Alptraum beginnt schon am frühen Morgen. Um 8:07 Uhr fährt die Straßenbahn in Richtung Düsseldorf Hauptbahnhof ab. Gerade noch rechtzeitig und nach einem kurzen Sprint springe ich durch die sich bereits schließenden Türen. Vielleicht war das gar nicht so schlecht, denn so konnte ich mich nicht großartig an der vollen Haltestelle Werstener Dorfstraße in Düsseldorf mit dem beschäftigen, was in der U79 auf mich wartet. Drinnen schaue ich mich erst einmal nach einem Platz um. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, von daher setze ich mich ins künstliche Licht auf einem der Sitze quer zur Fahrtrichtung, direkt neben der Tür. Es ist die einzige noch freie Sitzgelegenheit. Ich sehe viele Menschen, die meisten haben sich jedoch mit Kopfhörern von der Außenwelt abgeschottet. Ob es ihnen ähnlich geht wie mir? Vermutlich nicht.

Fitness-Uhr zeigt 100 BPM an

Ich konzentriere mich auf die Geräusche. Ich höre den Fahrtwind und bilde mir ein den Strom zu hören. Vielleicht ist es auch nur die Reibung der Metallräder an den Gleisen. So ganz genau ausmachen kann ich es nicht. Die Tür an meinem rechten Ohr knarrt und quietscht bei jedem Öffnen. Gott sei Dank sind Ferien, denke ich mir, denn sonst wäre die Bahn wahrscheinlich auch noch komplett mit Schulkindern überfüllt. Und es würde noch mehr nach Schweiß riechen als in diesem Moment ohnehin schon. Ich merke einen leicht erhöhten Pulsschlag, meine Fitness-Uhr zeigt mir 100 Herzschläge pro Minute (BPM) an. Nach etwa zehn Minuten bin ich bereits am Hauptbahnhof angekommen. Erste Etappe geschafft!

Der Hauptbahnhof Düsseldorf zieht auch um diese Zeit schon eine Menge Leute an. Ich habe sieben Minuten Zeit, um von der U-Bahnstation zu Gleis 17 zu gelangen, allerdings hätte ich gerne noch etwas zum Frühstücken. An den Bäckereien haben sich jedoch bereits längere Warteschlangen gebildet. Ein kleiner Bahnhofs-Supermarkt sieht von außen hingegen leer aus. Aus Mangel an Zeit und Alternativen beschließe ich, mir ein Fünferpack Milchschnitte und eine Dose Energydrink zu kaufen. Ich bin müde, aber Kaffee dauert mir gerade auch zu lange. 4,90 € sind happig, jedoch gerade auch nicht meine größte Sorge. Ich eile zum Gleis.

Tagtäglich warten hier in Düsseldorf hunderte Menschen auf ihren Zug

Dort angekommen sehe ich, dass sich mein RE verspätet. Obwohl er in Düsseldorf startet. Als unpünktlicher Mensch, der ich bin, sage ich mir, dass ich mich darüber eigentlich gar nicht ärgern darf. Ich muss mich anders beschäftigen und so fallen mir in der Wartezeit die gelben Quadrate auf dem Boden auf, die den Raucherbereich markieren. Um mich abzulenken, mache ich den Selbsttest, ob sie tatsächlich etwas bringen. Zuerst rieche ich mal in diesem magischen Feld, danach außerhalb. Als letzten Test fange ich außerhalb an zu riechen und gehe dabei in das Quadrat rein. Ich bilde mir ein, dass es außerhalb der Linien tatsächlich weniger nach Rauch riecht, als drinnen. Das beeindruckt mich. Und es vertreibt Zeit. Denn als ich mit diesem – zumindest aus meiner Sicht – wissenschaftlichen Experiment fertig bin, öffnen sich die Türen des Zuges.

Sitznachbarin erinnert an die Kindzeit

Im RE selbst herrscht gespenstische Stille. Ich höre nur Rascheln, obwohl auch hier wieder fast alle Sitze voll sind. Es spricht niemand. Den Geruch im Abteil selbst kann ich nicht zuordnen. Irgendwie eine Mischung aus Parfüm, nassen Handtüchern, die bereits mehrere Tage zerknüllt auf dem Boden eines Badezimmers gelegen haben und irgendwie auch Desinfektionsmittel. Das beruhigt mich. Noch besser ist hingegen nur, dass ich einen Doppelsitz für mich alleine bekommen habe. Allerdings muss ich nur eine Station später einsehen: zu früh gefreut…

Eine mittelalte, etwa 1,70m große Person setzt sich neben mich. Sie trägt eine schwarz grundierte Hose mit Blümchenmuster, dazu eine hellblaue Jacke. Da ich mich sowieso schon die ganze Zeit versuche abzulenken, denke ich an meine Kindheit zurück. Dort hat mir meine Mutter unzählige Male eingetrichtert, niemals schwarze Hosen mit blauen Shirts, Pullover, Jacken oder ähnlichem zu kombinieren. Ich sehe ein, dass sie Recht hat.

Als sie neben mir sitzt, rieche ich nichts anderes mehr als ihren Duft. Kein Parfüm, dafür nur Zigaretten. Oder es ist Eau de Cigarette. Da sie alle etwa 30 Sekunden einen schleimigen Husten von sich lässt, ist es wohl keine neue Kreation von Bruno Banani oder Hugo Boss. Ich überlege, dass sie auch problemlos ein wandelndes Schockbild für Kippenpackungen sein könnte. Dann öffnet die Frau ihr Frühstückspaket: Schwarzbrot mit Leberwurst. Es stinkt bestialisch. Ich weiß nicht, ob sie gerade absichtlich versucht, mich zu quälen, dennoch fasse ich es als eine Art persönlichen Angriff auf. Ich öffne meinen Energydrink, um dagegen anzustinken und hoffe, dass niemand in der Nähe sitzt, den das Bahnfahren ähnlich stresst wie mich.

Mein Puls, das überprüfe ich, hat sich irgendwo zwischen 120 und 130 BPM eingeordnet. Für den Rhythmus eines frühen Blümchensongs reicht es zwar noch nicht, könnte aber locker den Bass beim Electro-Festival Tomorrowland geben. Er senkt sich merklich, als die Frau in Mülheim aussteigt. Dort beschäftigt mich bereits die nächste Frage: Wie sehr ist bitte der Zug zur Seite geneigt? Ich versuche eine Sitzposition zu finden, in der ich überleben würde, falls der Zug tatsächlich umkippen sollte. Ich war zwar nie gut in Physik oder Mathe, dennoch überlege ich, wann dies tatsächlich passieren könnte. So etwas wie einen Elchtest macht vermutlich niemand mit Regionalbahnen. Oder vielleicht doch?

Ein letztes Risiko

Am Hauptbahnhof Essen stelle ich schlussendlich fest, dass ich meinen Anschluss – die U11 in Richtung Gelsenkirchen-Horst – verpassen werde. Auch hier achte ich wieder auf alles andere. Es riecht frischer als am U-Bahnhof in Düsseldorf, es ist kälter und die Beleuchtung ist blau. Wozu?, frage ich mich. Beruhigende Wirkung? Wenn es so sein sollte, konstatiere ich, hilft es. Ich mache mir ja schließlich Gedanken drüber.

In der Bahn selbst sind für mich die Sitze der erste Blickfang. Sie sind blau, das Muster darauf gekrakelt. Es soll Beschmierungen von Fahrgästen verhindern, weil sie bereits beschmiert aussehen. Ich habe dennoch die große Sorge, dass das Muster am Ende dazu führt, dass man von den echten Beschmierungen einfach nur nichts mehr sieht. Nach kurzem Innehalten gehe ich das Risiko ein, mich in einen frischen Edding-Streifen zu setzen. Dann stelle ich fest, dass die Bahn selbst leiser ist, als in Düsseldorf. Das übertriebene Piepen beim Öffnen oder Schließen der Türen und manchmal auch ohne Grund ist eine Oase des Wohlfühlens für mich. Es ist so nervig, dass ich mich auf nichts Anderes mehr konzentrieren kann.

An der Haltestelle Horster Straße angekommen, bemerke ich, dass jetzt alles nur noch ein Katzensprung ist. Die paar Minuten schaffe ich auch noch, also freue ich mich darauf, dass die Tortur gleich vorbei ist. Ich überlege, dass ich etwa zehn Euro Spritgeld  gespart habe und meine Uhr sagt mir, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits etwa 300 Kilokalorien verbrannt habe. Dennoch steht zu diesem Zeitpunkt mein Entschluss: Ab morgen fahre ich wieder mit dem Auto.