Seit wenigen Wochen sitzt der Gelsenkirchener Lehrer Jörg Schneider im 19. Bundestag der Bundesrepublik Deutschland. Mit uns spricht der AFD-Politiker über seine aktuelle Regierungsprognose, Studiengebühren und Provokationen aus der deutschen Satirewelt.

Herr Schneider, wie sehen Sie den Abbruch der Sondierungsgespräche und welche Rolle nimmt die FDP in den gescheiterten Verhandlungen für Sie ein?
Wir waren zwar in Berlin, haben jedoch genau so wenig mitbekommen, wie jeder andere, der Zeitung liest und Fernsehen guckt. Insofern ist es schwierig zu beurteilen, was genau gesagt und getan wurde. Aber ich glaube, Christian Lindner ist ein Stratege und wird sich dabei was gedacht haben – auch rein über das Inhaltliche hinaus. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, sind alle geschlossen zur gleichen Zeit aus den Räumen gegangen. Das hört sich für mich sehr konzertiert an. Ich denke, das war ein Stück weit von ihm geplant. Was er damit jetzt erreichen wollte: Klar zu machen, wir stehen zu den Inhalten oder ob es ein Versuch war zu pokern, ist schwer zu sagen.

Könnte sich die AFD stattdessen vorstellen in die Koalitionsverhandlungen einzutreten?
Dazu haben wir uns bereits in der Fraktion beraten und waren uns ziemlich einig. Es wäre eher ein Signal nach außen, als ein wirkliches Verhandlungsangebot. Man muss ehrlich und realistisch sein: die wollen nicht mit uns. Da können wir uns auf den Tisch stellen – die kommen nicht. Insofern ist das eine akademische Debatte.
Wir sollten die vier Jahre nutzen, um erste Parlamentarische Erfahrung zu sammeln und uns in dem großen Zirkus zurechtzufinden. Das ist schon schwer genug. Würden wir in einer Regierungssituation sein, wenn auch nur in einer Duldungssituation, würden die anderen Parteien uns schnell mit ihren Finessen überrumpeln und mit dem Nasenring durch die Manege ziehen.


Wie stehen Sie zu den aktuellen Geschehnissen rund um Ihren Parteikollegen Björn Höcke? Muss es immer noch eine geforderte „180 Grad Wende in der deutschen Erinnerungspolitik“ geben?
Das, was jemand auf seinem Grundstück macht, ist seine Sache. Aber dem ganzen ging wohl eine Observierung von ihm und seiner Familie voraus. Das halte ich für äußerst kritisch und geht für mich über das Ziel hinaus. Da stehe ich klar an der Seite von Björn Höcke.
Obwohl ich inhaltliche Probleme mit seinen Positionen habe. Für mich ist das klare Bekenntnis zur deutschen Geschichte ein wichtiger Grund, weshalb ich zu diesem Land ein positives Verhältnis habe. Ich finde es wichtig, dass wir ein offenes Verhältnis zu unserer Geschichten haben. Eine Wende um 180 Grad muss nicht stattfinden, eher kleine Justierungen.

Die da wären?
Wir sollten zu einem übergeordneten Geschichtsbild finden, bei dem wir den Holocaust auf keinen Fall vergessen dürfen. Doch das Thema sollte in einen Gesamtzusammenhang eingeordnet werden, der auch die positiven Entwicklungen des Landes aufzeigt. Das würde es den Menschen einfacher machen sich zu integrieren.

Was halten Sie von den Provokationen rund um den „Reichspark“ durch Jan Böhmermann, wo eingangs auch die AFD thematisiert wird?
Satire soll was dürfen. Nur wenn ich als Nazi bezeichnet werde, dann habe ich damit ein Problem. Die haben Millionen Menschen umgebracht und jemanden wie mich oder Parteifreunde als Nazis zu bezeichnen, und damit auf eine Stufe mit Massenmördern zu stellen, relativiert den Holocaust. Das verherrlicht die Opfer und das tut man nicht. Deswegen habe ich ein Problem damit. Sonst gehe ich einer Diskussion zu dem Thema nicht aus dem Weg.

Um nun weiter auf studentische Themen zu kommen. Wie steht die AFD zu Studiengebühren an Universitäten und Fachhochschulen?
Bildung sollte kostenlos sein. Wir sollten diese Angebote sogar ausweiten und Bafög nicht altersmäßig begrenzen. Vielmehr sollten wir das Modell des lebenslangen Lernens ausweiten. Eine klare Bildungsbiografie, wie es noch vor 30 Jahren der Fall war, gibt es heutzutage nicht mehr. Die Leute müssen mehr Flexibilität im Leben entwickeln, öfter ihren Job wechseln und sich neuen Anforderungen anpassen. Das müssen wir mit Bildungsangeboten begleiten, die kostenlos und altersunabhängig sind.

Stichwort Geld: die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr eine Rekordsumme von über 580 Millionen Euro in politische Stiftungen gesteckt. Hat die AFD in Zukunft auch vor Mittel von geschätzten 80 Millionen Euro abzurufen und diese beispielweise in studentische Stipendien zu stecken?
Zunächst ist das Thema Stiftung bei uns noch sehr umstritten. Das Stiftungswesen ist ausgewuchert, daher wollen wir die Bundesmittel wieder auf ein gesundes Maß zurückführen. Mittlerweile sind die politischen Stiftungen zu Versorgungseinrichtungen für ehemalige und nicht wiedergewählte Politiker herangewachsen. Machen wir uns nichts vor, das ist verdeckte Parteienfinanzierung. Der eigentliche Gedanke der politischen Bildung ist runtergefallen.
Auf der anderen Seite gibt es bei uns eine Strömung, die darauf hinweist, dass die Mittel genau zugeordnet sind. Wenn wir unseren Teil nicht rausnehmen, nimmt ihn jemand anderes.
Daher wird unsere Marschrichtung vermutlich dahingehen. Stipendien sind schnell und einfach aufsetzbar. Wenn wir junge Leute in der Partei haben, die man auf diese Weise fördern kann, ist das eine gute Sache.

In Großstädten wird der bezahlbare Wohnraum immer knapper. Vor allem für Geringverdiener wird die Suche immer schwieriger. Wie möchte die AFD dieses Problem lösen?
Grundsätzlich denke ich, dass die von den Linken geforderten Eingriffe in den Markt, beispielweise die Mietpreisbremse, uns nicht weiterhelfen. Das bringt kurzfristig was für die, die das Glück haben eine Wohnung zu finden. Das ist im Endeffekt jedoch ein Lotteriespiel. Es wird letztendlich dazu führen, dass das Bauen von Wohnungen uninteressanter wird. Bei Erstbezug gilt dies zwar nicht, doch wer baut und dann vermieten will, denkt schon, dass er einen gewissen Aufschlag auf den Erstbezug schlagen kann, danach jedoch weiter runtergehen muss. Danach ist man durch das System der Mietpreisbremse sehr stark eingeschränkt. Es wird in Konsequenz eher dazu führen, dass es weniger Wohnungen gibt.
Bauexperte bin ich zwar nicht, doch dieses Problem sehe ich ebenso.

Bei der vergangenen Bundestagswahl bestand die Wählerlandschaft Ihrer Partei mit nur 7% aus Personen mit einem Hochschulabschluss. Wie kommentieren Sie diese Zahl?
Als Partei muss man Politik für alle Menschen machen. Wenn andere Parteien eine so hohe Quote an Hochschulabsolventen ansprechen, muss man sich fragen, warum sie die einfachen Menschen nicht mehr erreichen. Politik muss nachvollziehbar sein.
Wir haben es geschafft den Zeitgeist zu treffen und Dinge so formuliert, dass sie für alle verständlich sind.  In Gelsenkirchen sind wir bunt gemischt. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir nur einen ganz kleinen Ausschnitt der Bevölkerung repräsentieren.

Im Osten eine Hochburg – die AFD erreichte in Sachsen Werte bis zu 32 Prozent.

Weshalb gibt es dann so eine große Schere zwischen der Wählerlandschaft Ihrer Partei im Osten und Westen Deutschlands?
Das ist für uns definitiv ein großes Problem. Ich bin nicht unbedingt ein Freund von Björn Höcke. Es geht nicht um die Inhalte, eher um die Art des Auftretens, wobei es natürlich auch hier in NRW einige gibt, die ihn toll finden.
Ich denke, man sollte die Menschen so ansprechen, wie sie angesprochen werden wollen. In den neuen Bundesländern ist das eine etwas andere Form. Da trifft er vielleicht den Ton. Auch liegt es an der fehlenden Bindung an eine Partei. In Gelsenkirchen gibt es zum Beispiel viele Menschen, die seit 50 Jahren SPD wählen und davon nicht abrücken. Da ist die Wahl Familientradition, die ist im Osten nicht gibt.

Die AFD ist mit vielen Vorurteilen belastet. Sollte sich Ihre Partei mehr von völkischen und nationalistischen Aussagen einzelner Mitglieder distanzieren?
Wenn es zu derb ist, habe ich mich teilweise auch schon dazu geäußert.
Wir müssen die Leute aber immer wieder darauf hinweisen, alles in einem Kontext zu beurteilen. Das Zitat „Deutschland den Deutschen“ zum Beispiel war ein interner Chatverlauf. Nicht alles ist für die Öffentlichkeit gedacht – das kennt jeder. Aussagen kann man ebenso immer anders formulieren. Wenn ich sage, dass in Deutschland alle Entscheidungen von Deutschen getroffen werden sollen, dann ist es nichts anderes, als es in Artikel 20 Absatz 2 steht: „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“. Dann ist es plötzlich vollkommen Mainstream mit der Verfassung.

Also gibt es in der Partei keine klaren Richtlinien, wie man solche Aussagen formuliert?
Wie wollen Sie sowas durchsetzen? Wenn ein interner Chat an die Öffentlichkeit gerät, kann man nicht viel machen. Mittlerweile sind wir natürlich sensibilisieret. Nach einem Glas Rotwein poste ich nichts mehr (lacht).
Man muss sich immer der Wirkung seiner Worte bewusst sein und damit leben, dass auch ein einzelner Satz rausgegriffen wird. Alles muss für sich alleine stehen können.

Hatten Sie schon einmal Probleme mit dem Herausgreifen einzelner Sätze?
Eigentlich nicht. Gerade in Gelsenkirchen haben wir mit der Presse keine schlechten Erfahrungen gemacht.

Wenn wir dieses Land verändern wollen, dürfen wir uns nicht darauf beschränken eine Opposition zu sein.

Welche kurz- und langfristigen Ziele planen Sie nun mit der AFD in der Bundespolitik?
Ich glaube zunächst geht es erstmal darum eine gewisse Akzeptanz aufzubauen. Dass wir wahrgenommen werden als eine Partei, die auf den Boden des Grundgesetztes Forderungen stellt, die den Wünschen unserer Wähler entsprechen. Wir sind keine Bösen, wir sind ziemlich normal.
Wenn wir dieses Land verändern wollen, dürfen wir uns nicht darauf beschränken eine Opposition zu sein. Das Parteienspektrum ist mittlerweile relativ zersplittert. Wir müssen davon ausgehen, selbst wenn es bei uns gut läuft, dass bei 20-25% Schluss ist. Auf der Basis wird man keine Regierung bilden können. Man muss Kompromisse eingehen, das gehört zur Realpolitik.
Für die Zukunft behalten wir uns weiterhin das Ziel einer gesteuerten Zuwanderung, die in unserem Sinne und dem der Zuwanderer ist. Auch müssen wir Europa im Blick behalten und darauf achten, dass es zu keinem Zentralstaat wird, der über die Köpfe der Wähler hinweg entscheidet. Zuletzt brauchen wir eine Reform der Sozialsysteme. Gerade für Leute mit einem niedrigen Bildungsstand ist alles viel zu kompliziert.

Wie sieht zuletzt Ihre Koalitions-Prognose für die kommende Regierung aus?
Ich denke, dass es vermutlich auf eine Große Koalition hinauslaufen wird. In Deutschland sind wir noch so verdrahtet, dass wir ein großes Sicherheitsdenken haben. Die klaren Strukturen, die wir uns wünschen, können nur schwer von einer Minderheitenregierung aus CDU und FDP durchgesetzt werden.