Fünf Uhr morgens. Es ist Sonntag und draußen pfeift der frühwinterliche Wind an den Fenstern vorbei. Christoph schläft noch tief und fest unter seiner dicken Daunendecke. Gestern war ein langer Abend. Wie jeden Samstag stand auch diesmal ab 18 Uhr die Sportschau auf dem Programm. Zusammen mit seinen Freunden und ein paar Flaschen Bier, haben sie die Zusammenfassungen der Freitags- und Samstagsspiele geschaut. Die Sportschau gehört schon lange zu ihrer Tradition und ist fester Bestandteil der Woche. So wie Christoph schauen pro Saison mehr als fünf Millionen andere Fans in Deutschland, die seit 1961 bestehende Sportsendung, in der es hauptsächlich um die Fußballspiele der dritten bis zur ersten Liga geht.

Zur selben Zeit und auf der anderen Seite der Stadt sitzt Niklas in der ersten U-Bahn des Sonntags. Müde blinzelt er durch das halogenerleuchtete Abteil. Viele Fahrgäste gibt es um diese Uhrzeit noch nicht. Lediglich eine Hand voll Nachteulen sparten sich anscheinend das Geld für ein Taxi und entschieden sich für die Bahn nach ihrem Besuch in einem der zahlreichen Düsseldorfer Nachtclubs. Sichtlich alkoholisiert wanken sie nun bei jedem Bremsvorgang des Zuges. Niklas wäre gestern auch gerne ausgegangen aber alle zwei Wochen muss er seinen Freunden absagen. „Für die große Liebe muss man Opfer bringen.“, erklärt er. Draußen ist es stockdunkel. Sein Rucksack klirrt dumpf als Niklas sich erhebt. Die Tasche ist randvoll mit Bier. „Altbier, versteht sich.“. An der Haltestelle herrschen gefühlt Temperaturen um den Gefrierpunkt. Niklas zieht sich den rotweißen Schal tiefer ins Gesicht, der stolze Löwe prangt darauf und hat seinen Anker fest im Griff. Auf den Straßen ist um diese Zeit noch nicht viel los. Außer hier und da einem Taxi, sieht man an diesem Morgen nicht viel. An der Ampel vor der Haltestelle kommt ein grauer VW zum Stehen. Lichthupe. Niklas weiß Bescheid: gleich wird es eine Heizung geben, gleich ist der Beifahrersitz für mehrere Stunden sein Platz.

Vor Christophs Haustür verstummen die letzten Stimmen der ausklingenden Nacht, aber das kann ihn nicht wecken. In der Küche tickt die Wanduhr mit dem lokal allseits bekannten roten „F95“ in einschläfernd-beruhigendem Takt und der Minutenzeiger bewegt sich unaufhaltsam auf sechs Uhr morgens zu.

Sechs Stunden Fahrt

errechnet das Navigationssystem im VW. Der „Audi-Sportpark“ in Ingolstadt ist das Ziel dieses Sonntags. Sechs Stunden Autobahn für anderthalb Stunden Stadion. Jedes Wochenende begleiten im Durchschnitt 5.400 Fans ihre Mannschaft in der zweiten Fußballbundesliga durch die Republik. Mal geht es mit der U-Bahn nach Duisburg und am nächsten Wochenende fährt der Sonderzug nach Kiel schon um 04:45 Uhr ab. An diesem Sonntag sind es knapp 1.000 Anhänger, die den Tabellenführer der zweiten Bundesliga, Fortuna Düsseldorf, zu den „Schanzern“ nach Ingolstadt eskortieren. Während die Mannschaft schon am Samstag mit dem Flugzeug in ein Hotel nach München flogen, quälen sich die Fußballfanatiker durch Autobahnbaustellen, stundenlange Staus und entleeren ihre, von Bier geplagte Blase literweise auf Bustoiletten.

Niklas ist mittlerweile im Autositz angekommen. Das Navi dirigiert den Fahrer und die vier weiteren Insassen zielsicher an Bonn und Siegburg vorbei. Die Sonne geht allmählich auf, das erste „Füchschen Altbier“ schmeckt hervorragend, die Autobahn bietet an diesem Morgen freie Fahrt und die Reisegeschwindigkeit beträgt 220 Stundenkilometer.

Durst

Eine trockene Zunge lässt Christoph nach der Mineralwasserflasche neben seinem Bett tasten. Die ersten Sonnenstrahlen spielen auf den Buchrücken im Schrank neben seinem Schreibtisch. Er griffelt nach seinem Handy und blinzelt schläfrig über die großen Zahlen auf dem Display. 8:27 Uhr. Der Bildschirmhintergrund zeigt den alten Schlossturm, die Lambertuskirche mit ihrem verdrehten Turm, die Gehry-Bauten und den Rheinturm – die Skyline der NRW-Landeshauptstadt. Christoph dämmert wieder weg.

Höhe Wiesbaden

Zeit für den ersten Pinkelstopp und die Beine schreien auch nach Auslauf. Die Sonne steht nun am Himmel aber die Kälte kriecht trotzdem unter die Jacken. Der erste Biss in das mitgenommene Brötchen gibt Kraft und das nächste Bier verbreitet gute Laune unter der kleinen Düsseldorfer Reisegruppe. Zahlreiche Aufkleber auf den Straßenschildern des kleinen Rastplatzes verdecken die eigentliche Botschaft der Wegweiser. Es gehört als eingefleischter Auswärtsfahrer mit dazu, seinen Verein auch auf der Strecke gebührend zu vertreten. Seine Farben per Aufklebern zu verbreiten ist daher Gang und Gebe. Auf der Beschilderung des Platzes haben sich schon Anhänger von Borussia Dortmund, Erzgebirge Aue, Hansa Rostock, 1860 München und ab nun auch wieder von Fortuna Düsseldorf verewigt. „Sticker von Köln, Gladbach, Leverkusen und besonders von Rot-Weiß Essen werden zerkratzt oder überklebt“, erklärt Niklas den Umgang mit den Lokalrivalen. Nach einem letzten tiefen Zug an der Zigarette in der hessischen Morgenluft wird sich wieder in den Wagen gezwängt. Neben dem Nummernschild leuchtet selbstverständlich auch das blutrote Logo des einst so glorreichen Westvereins der rechtsrheinischen Hauptstadt.

Ein VW auf dem Weg in Richtung „Audistadt“

 

In eben dieser Stadt ist Christoph mittlerweile auf den Beinen und sitzt beim ersten Kaffee ausgeschlafen an seinem Küchentisch. Die Aufregung ist auch bei ihm groß, schließlich geht es um den doch so ersehnten Aufstieg in die erste Liga. Ganz nah ran an die Sonne des Profifußballs. Einmal durfte er diese Ekstase schon mitterleben. 2012 gewann die Fortuna zitternd die Relegation gegen Hertha BSC Berlin und stieg in Liga eins auf. Der Jubel war grenzenlos, die Vorfreude ausufernd, die Erwartung hoch, die Euphorie quasi zu greifen und die Enttäuschung über den direkten Wiederabstieg niederschmetternd.  Doch dieses Jahr soll die Ekstase auf die Straßen der Altstadt zurückkehren.

Frankfurt und Aschaffenburg schon lange hinter sich

Einige Kilometer Baustellen und ein paar Bier später, rasen die Insassen des VW über die Autobahnen Nord-Bayerns. Auf den blauen Schildern ist in weiß ganz deutlich Würzburg angeschlagen. Auf der dreispurigen Straße mehren sich die Fahrzeuge mit dem amtlichen Kennzeichen „D“. Noch besser zu erkennen an den wehenden Schals, die aus den Fenstern flattern. Allmählich steigt die Vorfreude im Wagen, die ersten Tipps zur möglichen Startaufstellung werden abgegeben. Wer ist verletzt? Wer kann spielen? Niklas nimmt von jedem fünf Euro entgegen. Zusammen platzieren sie auf einer Wettplattform einen Tipp auf das Spiel. Vielleicht lassen sich ja so die Spritkosten für den durstigen Diesel bezahlen. Drei zu eins für die Kicker aus der Heimat soll am Ende auf der Anzeigetafel stehen. Auf halber Strecke zwischen Würzburg und Nürnberg leuchtet die Tankanzeige auf.

Das Trikot liegt ordentlich gefaltet im Schrank. Jedes Mal läuft es Christoph kalt den Rücken runter vor Stolz. Dieses Jahr gefällt ihm das Design des Jerseys besonders gut. Dünne rote Streifen auf schneeweißem Grund. Auch wenn es mit fast 70 Euro nicht billig war, musste er es einfach haben. Der Schal hängt an der Garderobe. „Deutscher Meister 1933“ steht darauf. „Jeder Senffleck hat eine eigene Geschichte.“, schwärmt Christoph von seinen Besuchen im heimischen Stadion. Im Kühlschrank liegt das Altbier das er gestern schon am Kiosk an der Ecke besorgt hat.

Jeder zweite Wagen ist ein Audi

Der VW schiebt sich durch den Innenstadtverkehr von Ingolstadt. Irgendwie erinnert vieles an das bei Düsseldorfern so verhasste Leverkusen: Eine große Fabrik, eine Stadt, viel Werbung, wenig Geschichte, wenig Charisma. Dabei haben die beiden heute im sportlichen Wettstreit gegeneinander antretenden Städte sogar etwas gemeinsam, denn in Ingolstadt gibt es auch einen historischen Stadtkern, auch wenn er weniger berühmt ist als die Altstadt der Rheinländer, so wurde hier immerhin die erste Universität von Bayern gegründet. 1537 wurde die Stadt zur „bayrischen Landesfestung Ingolstadt“ ausgebaut, was ihr den Beinamen „die Schanz“ eintrug und noch heute tragen die Einwohner Ingolstadts den Spitznamen „Schanzer“. Das alles interessiert einen Fußballfan reichlich wenig, denn der FC Ingolstadt 04 ist noch ein wahrer Jungspund unter den Traditionsvereinen der ersten und zweiten Liga. Gegründet wurde er 2004 und verdankt seinen aktuellen Status als ehemaliger Bundesligist und aktueller Zweitligist größtenteils dem ortsansässigen Autofabrikanten und Weltkonzern Audi, der knapp 20% der Clubanteile innehat. Somit gehören die „Schanzer“ unter den alteingesessenen Fußballfans zu den unbeliebten „Kommerzvereinen“. „Wir waren schon Meister, zweimal Pokalsieger und Bundesligist, da hat man sich hier noch auf Pferden duelliert.“, spottet Niklas über den FCI. Fortuna Düsseldorf verzeichnet seine Gründung im Jahr 1895.

Christoph hat inzwischen den Fernseher angeschaltet. Vorberichterstattung. Die Experten von Pay-TV-Sender „Sky“, rund um Ex-Fußballprofi Lothar Matthäus, fachsimpeln im wohlig-warmen Studio über die anstehenden Partien. Noch ist Zeit für eine kleine, kulinarische Grundlage bevor das erste Alt geöffnet wird. Im Kühlschrank geht das Licht an und neben den dunkelbraunen Bierflaschen steht der Kartoffelauflauf von Gestern. Die Mikrowelle summt leise als Matthäus die letzten Partien der Ingolstädter analysiert.

500 Kilometer südlich

wärmt ein frischer Döner die kalten Hände von Niklas. Noch eine knappe Stunde bis zum Anpfiff. Das Altbier aus den Rucksäcken ist längst leer und zirkuliert im Blut der Mitgereisten. Angeheitert scherzt man über das bayrische Dosenbier und spült den nächsten Bissen mit eben jenem hinunter. Anschließend mischt sich die fünfköpfige Gruppe unter die anderen Düsseldorf-Anhänger und marschiert zusammen zum Stadion. Schon im Wagen hatten Niklas und seine Mitstreiter sich warm gesungen. „Einige Lieder gehören einfach zu jeder Auswärtsfahrt dazu!“, verkündet er und stimmt in den Chor der umstehenden Menschen ein. Das „Altbier-Lied“ von den Toten Hosen gehört zum Standardrepertoire der Fortuna-Fanszene.

Auch Christoph ist großer Fan der „Hosen“ und erinnert sich an die dunklen Zeiten in der Vereinsgeschichte von F95 als man jahrelang in der Oberliga Nordrhein spielte. „Egal ob dritte oder vierte Liga – Fortuna gehört zu Düsseldorf wie Altbier oder der Rhein.“, sagte Hosen-Sänger Campino 2001 in einem Interview. In diesem Jahr war die Düsseldorfer Mannschaft aus der dritten Liga abgestiegen. Mit rund einer Million Mark retteten die Bandmitglieder damals den Verein und ließen sich dafür mit ihrem Logo auf den Trikots der Spieler verewigen. Heute bezahlt man für ein solches Sammlerstück gut und gerne 300 Euro bei Ebay. Bei Heimspielen schallen die Hymnen der Band aus den Lautsprechern der „Esprit-Arena“. „Textsicher ist hier jeder.“, verkündet Christoph mit einem Fingerzeig auf die Plattensammlung neben seinem Fernsehgerät.

 

Spielstätte des FC Ingolstadt 04: Der Audi-Sportpark

 

Fußballtempel

Fährt man in Gelsenkirchen oder München von der Autobahn ab, läuft man durch Dortmunds Straßen oder macht man einen Sparziergang an Bremens Weser, dann sieht man die hiesigen Stadien groß und imposant aufragen. An Spieltagen ist das Millerntor-Stadion, im Herzen des Hamburger Kiez, ein Hexenkessel, das Böllenfalltor-Stadion in Darmstadt ist eine wahre Pilgerstätte für Fußballromantiker der alten Schule und das Schwarzwald-Stadion des SC Freiburg liegt mitten im namensgebenden Wald. Der Audi-Sportpark zu Ingolstadt liegt etwas außerhalb des Stadtkerns. Ein Industriegebiet. Ein Baumarkt. Ein Schotterparkplatz. Fünf Euro Parkgebühren. Das Stadion begrüßt seine Gäste mit einem Spruchband: „Willkommen bei den Schanzern“. Auch an diesem kalten Tag werden die Auswärtsfans am Eingang zum Gästebereich von der Polizei empfangen. Die Beamten wissen genau auf welche Merkmale sie bei den Mitgereisten achten müssen, doch da dies heute weder ein Derby noch ein anderes Hochrisikospiel ist, können die Männer in den schwarzen Einsatzanzügen entspannt den Schlagstock am Mehrzweckgürtel baumeln lassen. Noch ein letztes Foto vom Stadion, dann geht Niklas mit den anderen geschlossen durch die Einlasskontrolle. „Einmal Arme und Beine ausbreiten, bitte!“, verlangt der Ordner in gelber Warnweste. Im Innenraum des Stadions riecht es verführerisch nach Bratwurst, Senf und Frittierfett. Niklas zieht es zusammen mit den anderen in Richtung Bierstand. Auf ihren Gesichtern spiegelt sich Unmut. Wie so oft gibt es für Auswärtsfans lediglich alkoholfreies Bier. Dass man es in Ingolstadt stattdessen als „alkoholreduziert“ betitelt stößt augenscheinlich auch nicht auf Jubelstürme: „Das Zeug war schon mit Alkohol ungenießbar!“, verkündet Niklas seinen Frust. Angetrieben von den ersten Gesängen aus Richtung der Ränge, treibt es die Gruppe durch den Eingangstunnel auf die Stufen der Stehtribüne. Es ist eng. Auf der Suche nach einer geeigneten Lücke schmiert die Jacke an in Senf getränkten Wurstsemmeln entlang und drückt sich an glühenden Zigaretten vorbei. Die Ultrà-Gruppierung von Fortuna hat eine Choreografie vorbereitet. Alle Fans im Block bekomme eine eigene rotweiße Fahne in die Hand gedrückt und am Zaun wird ein großes Banner aufgehängt. 12:50 Uhr, noch zehn Minuten. Am Spielfeldrand packen die Sky-Moderatoren ihr Equipment ein. Die Hymne des FCI ertönt. „Ein Schanzer Herz schlägt niemals mehr allein.“. Niklas stimmt laut in den Gegengesang der Düsseldorfer Anhängerschaft ein.

Couch, Chips, Full HD und ein Bier

Was kann es schöneres geben an einem Sonntagmittag? Christoph erhöht die Lautstärke seines Fernsehers. Der Schiedsrichter führt die Teams auf das satte Grün des Spielfeldes. Die Kamera fängt die konzentrierten Gesichter der Akteure ein. Da es für die Fortunen das erste Spiel nach dem Beginn der Karnevalsession ist, treten die Spieler heute im traditionellen Karnevalstrikot auf und auch die „Ultras Düsseldorf“ erinnern an diesem Tag dem Geburtsort der Fortuna, dem „Flinger-Broich“ und zeigen ein großes Banner mit der Silhouette der Industriegegend. Der Gästeblock schwimmt in einem Fahnenmehr aus weißen und roten Fahnen. Die Farben von Christophs Verein sind heute stark vertreten in der Ferne. „Darauf kann man stolz sein.“, lobt er die Anhängerschaft.

 

Die Choreografie der Düsseldorf-Fans aus dem Block und von außen

 

Der „Audi-Sportpark“ zu Ingolstadt bietet Platz für über 15.000 Zuschauer und im Schnitt finden pro Heimspiel circa 10.000 Schaulustige den Weg in das Stadion. An diesem Sonntag sind fast 12.000 Fußballbegeisterte, davon knapp 1.000 mitgereiste Fans aus Düsseldorf. Diese strapazieren mächtig ihre Stimmbänder. „Kämpft den Gegner nieder! Holt den Sieg für uns!“, schreit Niklas mit den anderen im Chor. Wie ein Feldherr in der Schlacht sitzt der Vorsänger auf dem Gitterzaun des Blocks. Immer wieder stimmt er einen neuen Gesang durch sein Megafon an. Am Hals stechen dicke Adern heraus und wölben die vielen Tattoos. Er dirigiert die Masse vor sich, peitscht ein, muss das Spiel lesen und die Emotion oben halten. Die einstimmigen Anfeuerungsrufe schwappen durch das Stadion, vermischen sich mit den Gesängen der Ingolstädter Kurve und werden über die Außenmikrofone als undefinierbarer Stimmungsbrei in Christophs Wohnzimmer gespült. Der sitzt zurückgelehnt auf der Couchund nippt an seinem nicht-alkoholreduzierten Altbier. Niklas hüpft und schreit. Schon lange nichts mehr zu spüren von der Kälte. Er klatscht im Takt der Trommel, die Hände weit über dem Kopf und rot vom aneinanderschlagen.

 

Bald ist Halbzeitpause

Die ersten 45 Minuten waren ohne große Aufreger im Spiel vorübergegangen. Die ersten Zuschauer verlassen ihre Plätze um sich den besten Platz am Bierstand zu sichern. Christoph öffnet den Kühlschrank und greift nach einem frischen Bier. Aus dem Wohnzimmer plärrt der Fernseher die Geräuschkulisse durch den Flur. Ungewöhnlich laut. Christoph runzelt die Stirn. Niklas packt sich ungläubig an den Kopf, über ihm fliegen halbvolle Getränkebecher in Richtung Spielfeld. Nur Sekunden vor dem Halbzeitpfiff hat Alfredo Morales auf 1:0 für die Heimmannschaft gestellt. „Wir gehen jetzt mit einem psychologischen Nachteil in die Kabine und müssen in der zweiten Halbzeit mehr Präsenz in den Zweikämpfen zeigen.“, analysiert die fünfköpfige Reisegruppe die erste Hälfte des Spiels. Im Hintergrund dröhnen die aktuellen Charts vom Stadiondach auf die Ränge.

In Düsseldorf schaut Christoph sich das ärgerliche Gegentor in der „Sky-Halbzeitanalyse“ an und schimpft auf die unaufmerksame Verteidigung der Fortuna. Lothar Matthäus spricht von einer verdienten Führung. Christoph tut diese Feststellung mit einem Kopfschütteln ab und nimmt einen Schluck aus der Flasche. „Kaufen Sie ein Auto, einen Rasierer und machen Sie doch nochmal Urlaub.“, befiehlt der Werbeblock im Fernsehen vor dem Wiederanpfiff. Im Stadion hat jeder seine ganz eigene Interpretation der Geschehnisse auf dem Platz: „Die hatten doch bloß Glück.“, „Der Rasen ist aber hier echt ein Acker.“, „Der Benito soll mal seinen Turbo zünden. “, hört man von den umstehenden Fans. Niklas recherchiert auf dem Handy die Halbzeitstände der anderen Spiele. Zwischen dem FC St. Pauli und Jahn Regensburg steht es 2:2. Auch der aktuell große Konkurrent um Platz eins, Holstein Kiel, hat gestern nur einen Punkt gegen Nürnberg ergattern können. Die Düsseldorfer Spieler kommen geschlossen aus dem Spielertunnel zur zweiten Halbzeit. „Fortuna, Fortuna!“, skandiert der Vorsänger von seinem Platz aus. Sofort stimmen Niklas und die anderen mit ein. Auch für die vielen mitgebrachten Fahnen ist die Pause vorbei. Die großen, bemalten Stoffbanner wehen durch die kalte Winterluft Bayerns.

„Auf geht’s Fortuna!“

postet das Social Media-Team von Fortuna Düsseldorf auf Facebook. Christoph legt das Handy weg. Sichtlich konzentrierter verfolgt er nun die Vorgänge auf dem Bildschirm. Die Gesänge der Düsseldorfer Fans dringen jetzt auch an sein Ohr. Schon lange wissen Niklas Arbeitskollegen, dass schon wieder Spieltag war, wenn er Montagsmorgens krächzend auf seinem Schreibtisch ankommt. Er und die anderen 1.000 geben alles um ihr Team nach vorne zu peitschen aber es soll heute nicht sein. Auf den Rängen ist die Partie ganz klar an die stimmgewaltigen Düsseldorfer gegangen und auch die Choreografie hat für Eindruck gesorgt aber am Ende bleiben die sportlichen Erfolge aus und die drei Punkte in Ingolstadt. Schnell leert sich das Stadion. Die Mundlöcher in den Tribünen spülen die Zuschauer raus zu ihren Fahrrädern, Autos und den Bussen. Die Gästetribüne ist übersät von Plastikbechern, Zigarettenkippen und anderem Müll. Niklas und die anderen Fortunen treten den Rückweg zu ihrem Wagen an. „Willkommen bei den Schanzern“ wird immer kleiner. Niedergeschlagene Mienen steigen in den grauen VW. Noch schnell etwas Wegzehrung und ein paar Bier für die Rückfahrt lautet der Plan der Gruppe. „Nichts wie weg aus dieser Stadt.“, sagt Niklas frustriert.

Christoph greift zur Fernbedienung. Seine Stirn liegt in Falten. „Jetzt wird es eng im Aufstiegsrennen“, kommentiert Matthäus das Spiel. Christoph schaltet weg. „Richter Alexander Hold“, „Tagesschau“, „Rosins Restaurants“. Christoph schaltet den Apparat aus. Er hängt den Schal wieder an die Garderobe, faltet das Jersey behutsam und legt es zurück zu den anderen im Schrank. Für einen entspannenden Spaziergang wirft er sich seinen Mantel über, steckt sich eine Zigarette an und verlässt das Haus in Richtung Rheinufer.

 

Stoßstange an Stoßstange

Auf der Straße raus aus Ingolstadt reit sich. Motoren brummen im Leerlauf. In dem grauen VW herrscht Stille. Die Niederlage hat seine Spuren bei den Anhängern hinterlassen. Leise zischend löst sich der Kronkorken einer Bierflasche. Niklas löscht seinen angesungenen Durst mit einem großen Schluck. Seine Stimme ist rau: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“. Diese abgedroschene Phrase lockert die Stimmung im Wagen ein wenig. Dennoch wirken alle müde. Nachdem sich das typische Chaos auf den Straßen aufgelöst hat, beschleunigt das Düsseldorfer Auto und rollt auf die Autobahn in Richtung Heimat. Langsam wird es draußen dunkel. Auf Höhe Nürnberg setzt Schneeregen ein. Der ermüdend-regelmäßige Takt der Scheibenwischer lässt die Augenlider schwer werden. 220 Kilometer pro Stunde. Der Fahrer nuckelt an seinem Energy Drink, der Rest träumt vom glorreichen Aufstieg.

Tatort-Melodie

läutet die Sonntagabend-Tradition ein. Christoph schwenkt ein Glas Rotwein in der Hand. Der Ärger über das Spiel ist verraucht. Er legt die Beine hoch, seufzt und verfolgt das aufgeregt flackernde Blaulicht auf dem Bildschirm. Aufgeschreckt von dem Geflacker blickt Niklas verschlafen durch die Windschutzscheibe. Polizei. Ein Unfall. Zum Glück nur auf der Gegenspur. Ein paar Baustellen in Hessen und die obligatorischen Toilettenbesuche später steuert der Wagen zielsicher an Sankt Augustin vorbei. Ab hier ist es nur noch eine Stunde bis in das warme Bett. Insgesamt haben die Jungs heute fast 1.100 Kilometer im Auto zurückgelegt. Das Benzingeld haben sich alle geteilt. Zusammen mit der Eintrittskarte für das Spiel und den alkoholischen Nebenkosten, hat jeder von ihnen gut 50 Euro für den Tagestripp ausgeben müssen. So wie beinahe jedes zweite Wochenende im Fußballjahr. Mit durchschnittlich 2.057 Auswärtsfans ist Fortuna Düsseldorf Tabellenzweiter unter den Auswärtsfahrern in Liga zwei. Die Nordrhein-Westfalen müssen sich nur dem FC St. Pauli geschlagen geben. Der FC Ingolstadt liegt mit 471 Fans im Schnitt auf Platz 15 der 18 Zweitligisten.

Knapp 40 Euro stellt Sky Christoph pro Monat in Rechnung damit er alle Spiele der ersten und zweiten Bundesliga in Echtzeit und High Definition sehen kann. Zum Glück muss er für den Tatort nicht auch löhnen. Die Zusammenfassung der Spiele im WDR-Fernsehen schenkt er sich heute und verabschiedet sich wieder unter seine dicke Daunendecke. Morgen wartet ein harter Arbeitstag. Draußen pfeift der frühwinterliche Wind an den Fenstern vorbei. Die Küchenuhr tickt gleichmäßig.

„Ausfahrt vor ihnen!“, verkündet das Navigationssystem im VW. Der Wagen rollt auf einen Parkplatz im Düsseldorfer Stadtteil Wersten. Ein Handschlag für jeden. Den Rucksack geschultert schlurft Niklas zur U-Bahn-Haltestelle. Der Wind kriecht unter seine Jacke. Er vergräbt sein Gesicht im weißroten Schal. Der stolze Löwe klammert sich unbeirrlich an den eisernen Anker. Die letzte Bahn wird ihn nach Hause bringen. „Nächste Woche Montag holen wir gegen Dresden wieder drei Punkte und dann wird die Wintermeisterschaft im Sonderzug nach Kiel gefeiert.“.


Ewald Lienen würdigt die Auswärtsfahrer aller Vereine