Ihren Job als Gerichtsvollzieherin im Landgerichtsbezirk Kleve möchte Laura Schmidt nicht mehr eintauschen. Ganz ungefährlich ist ihr Beruf nicht, aber sie ist weit mehr als eine unerwünschte Besucherin.
„Gerichtsvollzieher sterben bei der Arbeit“, stellt Laura Schmidt (Name zum Schutz geändert) klar. Es ist 10 Uhr, Freitag und 39-jährige Gerichtsvollzieherin ist gerade auf ihrer täglichen Route zum Gericht unterwegs. In dunkler Jeans, schwarzer Bluse und mit ihrem Jutebeutel über der Schulter könnte man meinen, sie geht shoppen. Ihre Einkäufe: Akten. Begeistert ist sie nicht, als sie vor Ort angekommen den Blick in ihr halb volles Postfach wirft. Unter Urlaubsanträgen und Akten liegt auch ein gelber Umschlag – eine einstweilige Verfügung. „Oh nein“, schmunzelt sie, der Wachtmeister lacht. „Immerhin nicht am Nachmittag, wenn ich schon zu Hause sitze.“
Die Zugangsschleuse surrt, dann ist Laura wieder im Freien. Sie geht vorbei an dem Parkplatz, wo sie vorhin noch mit ihren Kollegen über die letzte Aktenprüfung gequatscht hat. Beim Laufen schaut sie in das Begleitschreiben, das den gelben Umschlag ummantelt. Ein Blick, wer oder was sie erwartet. Zu ihrer eigenen Sicherheit, denn es hat einen Grund, dass die Beamten bei jeder Zustellung die Wohnungstüren offenlassen – jederzeit bereit zur Flucht. Die Bohrer von der benachbarten Baustelle ertönen. Laura hebt den Blick: „Ein Schläger und Stalker. Das erledige ich jetzt direkt.“
Vom Schuldner zum Schicksal
Einstweilige Verfügungen zustellen: Das ist eine Aufgabe, der Gerichtsvollzieher noch am gleichen Tag nachkommen müssen. Außerdem pfänden sie, versteigern, räumen oder holen die Vermögensauskunft ein. Wer nicht reagiert, dem droht ein Haftbeschluss. „Schuldner reichen vom Geringverdiener über das junge Pärchen, das sich erstmalig verkalkuliert hat, bis zum reichen Senior, der einfach nur vergisst, seine Rechnungen zu begleichen“, erklärt Laura. Zwischen 1200 und 1800 Fälle gehen so im Jahr über ihren Schreibtisch. Vergessen hat sie die wenigsten von ihnen. Nennt man Laura eine Straße, kann sie sich an alles erinnern: Räume, Tiere, Menschen, Schicksale.
Unangekündigter Besuch
Angekommen. Ein paar Mal geht die kleine, dunkelhaarige Beamtin um das Reihenendhaus herum. Klingel und Briefkasten findet sie aber nicht. „Kaputt“, erklärt eine Verkäuferin im benachbarten Imbiss. Ob sie den Brief nicht einfach vor die Tür legen könne. „Nein, das darf ich leider nicht“, erklärt Laura der Frau. Die Autos rauschen vorbei, als die Verkäuferin auf Türkisch telefoniert. Laura wartet. Aktuell halten sie alle für eine Botin und das soll auch so bleiben. Diskretion ist das oberste Gebot einer Gerichtsvollzieherin.
Kurz darauf erscheint ein junger Mann in der Tür. Auf die Frage nach dem Bewohner drückt er Laura nur sein Handy in die Hand. Eine Bekannte des Mannes erklärt ihr am Telefon, der gesuchte Mann wohne nicht mehr hier. Aber er sei ein paar Läden weiter. „Wie soll ich jemand Unbekannten erkennen?“, fragt Laura. Bis morgen kann sie hier nichts mehr tun. Stempel und Siegel kommen noch auf die Akte. Dann kümmert sich das Gericht um eine neue Adresse.
Das Geheimrezept Empathie
In Lauras Büro liegt ein süßlicher Parfümgeruch in der Luft. Der weiße Raum ist sauber und ordentlich. Schließlich ist heute Freitag – Lauras Aufräumtag. Seit 6 Uhr ist sie bereits dort. Hat wie an jedem Tag zuerst die Finanzen abgearbeitet und anschließend die Akten sortiert. Für alles besitzt sie ihre Ordnung: gelb meint Räumung, blau Pfändung, grün den Haftbefehl. An der Wand hängen Fotos von ihrer Ausbildungsabschlussfeier. Fotos von ihrer Familie gibt es hier extra nicht, dafür aber eine Geburtstagskarte mit dem Schriftzug „No Drama Lama“.
Der Spruch passt. Meistens sieht sie sich selbst als Sozialarbeiterin für beide Seiten. „Dann ist es meine Aufgabe, den Leuten zu sagen, dass sie erstmal tief Luft holen sollen. Es geht darum, nett zu sein und die Angst zu nehmen. Aber ich kann auch anders“, so Laura.
Die versteckte Sozialarbeiterin
Zwei Tage lang hat Laura telefoniert, um Infobroschüren für Verbraucherinsolvenz zu bekommen – damit kann sie den Leuten etwas an die Hand geben. Das alles, obwohl sie ursprünglich nie Gerichtsvollzieherin werden wollte. Sie stockt: „Ich habe gelernt, dass ich den Leuten als Gerichtsvollzieherin auch helfen kann.“
Einem Schuldner, der die Briefe nicht öffnet, schickt sie deshalb einen weiteren Brief ohne Umschlag. Um ihm die Hemmschwelle zu nehmen, so sagt sie. Auch ruft sie in einer Obdachlosenunterkunft an, um sich nach einem Schuldner zu erkundigen, der unbedingt in seinem Auto leben wollte. Für eine ältere Dame schreibt sie die Kündigung einer Versicherung: „Aber wenn Kinder unter Schulden leiden, habe ich kein Verständnis mehr.“
Beraterin am Telefon
Es klingelt. „Und denken sie daran, dass E-Mails keinen rechtlichen Bestand haben“, erklärt die Gerichtsvollzieherin mit weicher Stimme am Telefon. Nicht selten brummt es heute in ihrem Büro – mal auf dem Festnetz, mal auf dem Diensthandy. Manchmal sind es Schuldner oder deren Angehörige, manchmal auch Anwälte, die eine Rechtsfrage haben. Jedes Mal heißt es erklären.
Laura lehnt sich dabei entspannt zurück und klemmt sich das Telefon unters Ohr. Sie zwinkert ein paar Mal schnell hintereinander, dann hebt sie ab: „Hallo Gerichtsvollzieherin Schmidt“ … „Sie wissen, dass ich fast schon mit dem Haftbefehl vor Ihrer Tür stehe?“ Es rumst leise, als Laura einen grünen Aktenstapel auf den Tisch legt. Dann zieht sie die gesuchte Akte aus dem Gummibund. Foto: Franziska Rother
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