Der Winter bricht über Deutschland herein und damit auch die härtesten Monate für Obdach- und Wohnungslose. Der Verein Face2Face in Dortmund hilft diesen Menschen, die kalten Wintertage besser zu überstehen und begegnet ihnen dabei stets mit Respekt.

Von Celine Gouveia Pereira

Die braunen Papiertüten knistern, während Jenni Brötchen mit Marmelade, Wurst oder Käse in sie hineinlegt. Holger stapelt Decken und Schlafsäcke auf dem gelben Bollerwagen. Unter der Woche studieren die beiden Soziale Arbeit, doch sonntags sind sie für die gemeinnützige Initiative Face2Face auf den Straßen Dortmunds unterwegs. Seit Mai 2020 ziehen Ehrenamtliche der Gruppe durch die Stadt, um den Alltag Bedürftiger mit einem Lunchpaket, einem Heißgetränk oder einer Unterhaltung zu bereichern. „Obdachlose werden von der Gesellschaft oft nicht nur übersehen, sondern ausgegrenzt. Das beste Beispiel dafür sind Zäune oder Absperrungen an überdachten Schlafmöglichkeiten. Es liegt nicht allein in unserer Hand, die Menschen vollständig wieder zu integrieren. Ihnen aber durch eine kleine Aufmerksamkeit zu helfen, bereitet auch uns so viel Freude, dass wir es jede Woche gerne wieder tun“, erklärt Jenni.
 Ein Piepen dringt aus der Küche hervor – „Kaffee ist fertig!“. Holger streicht sich die dunkelblonden Haare aus dem Gesicht und füllt den Kaffee in eine riesige Thermoskanne. Diese platziert er auf dem grünen Bollerwagen neben einigen Paketen Milch, Zucker und Hygieneartikeln wie Desinfektionsmittel, Masken und Taschentüchern.

Ein Bollerwagen voller Hilfe: Essen und warme Kleidung. (Foto: Celine Gouveia Pereira)

Zuhause im Offenen Zentrum

Wofür Face2Face steht, wird bei einem Blick durch den Raum sofort klar. „Mehr Häuser“, „Soziale Wohnungen“, „Mehr Arbeit & mehr Geld“ – das steht in bunten Farben an der Wand des Offenen Zentrums in Dortmund geschrieben. Hier können die Ehrenamtlichen sich für ihre Touren vorbereiten. „Zuerst habe ich mit ein paar Freunden in meiner WG Brötchen geschmiert, aber da hatten wir nicht die nötigen Kapazitäten. Seit Mai 2020 sind wir jetzt im Offenen Zentrum zuhause“, erklärt Holger, der Face2Face mit einigen Freunden zusammen im März 2020 gegründet hat.  „Hier kann jeder hinkommen, egal ob er bei einem Event oder einer Initiative mitmachen, oder was Eigenes starten will.“

Tafel im Offenen Zentrum Dortmund an der Schleswiger Straße 12 (Foto: Celine Gouveia Pereira)

Ein stummes „Danke“

Nach zwei Stunden sind die Wagen bis zum Rand gefüllt und Holger und Jenni machen sich zu Fuß auf dem Weg in die Innenstadt. Jenni ist an diesem kalten Wintertag in einen warmen Wollschal eingewickelt. Die braunen Haare hat sie zu einem Dutt zusammengebunden. Holger trägt seine dunkelblaue Regenjacke zunächst offen. Er schließt sie dann aber nach einigen Minuten, in denen der kalte Wind durch seine offenen Haare gepfiffen hat.
 Nach zehn Minuten machen sie das erste Mal Halt. Ein junger Mann begrüßt sie freundlich. Seine Beine sind dünn, sie zittern. Der Mann stottert kurz vor sich hin und fragt dann, ob etwas zu Essen für ihn übrig sei. Lächelnd gibt Jenni ihm eine der braunen Tüte und hilft Holger danach, Kaffee in einen Pappbecher zu schütten. Der Mann nimmt zögerlich beides an. Er verstaut geschickt das Mittagessen in seinem Rucksack. Aus seiner gebückten Haltung heraus schaut er nach oben, sein Blick wechselt zwischen Holger und Jenni hin und her. Das Funkeln in seinen Augen drückt seine Dankbarkeit aus, dafür muss er die Worte gar nicht aussprechen.

Tee und Kaffee, die beliebtesten Heißgetränke an diesem Wintertag. (Foto: Celine Gouveia Pereira)

Bekannte Gesichter

„Da seid ihr ja!“, ruft ein junger Mann sichtlich außer Atem. Er sprintet die letzten Meter auf die beiden Streetworker zu und stützt sich dann mit den Armen auf den Oberschenkeln ab, um tief Luft zu holen. Seine Hose ist durchlöchert und ihm deutlich zu lang, weshalb das untere Ende der eigentlich blauen Jeans schon modrig-braun verfärbt ist. „Ich habe am Stadtgarten gewartet“, erklärt er. „Da kommen wir gleich noch vorbei“ entgegnet Jenni. „Wie geht´s dir heute? Wir haben wieder Eistee dabei.“ Der junge Mann wippt unruhig von einem Bein auf das andere. „Boah, gerne!“ staunt er. „Darf ich noch was Süßes haben?“ Jenni nimmt eine ganze Packung Fruchtriegel, legt sie in eines der Lunchpakete und hält es ihm entgegen. „Mir wurde gestern mein Radio geklaut“, ärgert sich der Mann, und blickt auf den Boden. „Kann aber bei meinem Kollegen mithören. Naja, danke euch, bis dann!“ ruft er, während er auf dem Absatz kehrt macht und schnellen Schrittes wieder in die Richtung verschwindet, aus der er gekommen ist. „Mittlerweile gehen einige auch von selbst auf uns zu“, erklärt Jenni. „Das war nicht immer so. Mit der Zeit gewinnt man aber das Vertrauen der Menschen. Die müssen erstmal lernen, dass wir denen nichts Böses wollen. Ganz im Gegenteil sogar.“

Es gibt solche und solche

Einige Stopps, übergebene Lunchpakete und nette Unterhaltungen später, wird Jenni auf einen älteren Herrn aufmerksam, der mit einem Arm in einem Mülleimer wühlt. Sein Bart ist gelblich verfärbt, das Gesicht und die geschwollenen Hände rot vor Kälte. Jenni spricht ihn an, doch schnell wird klar, er ist nicht an einem Gespräch interessiert. Stattdessen mustert er die Streetworker und die knallbunten Bollerwagen skeptisch und knurrt: „Kaffee und Brot. Und Masken.“ Jenni und Holger verlieren ihr Lächeln nicht. Die weißen FFP2-Masken verdecken zwar ihre Münder, an den Augen ist es aber trotzdem zu erkennen. „Brauchen sie noch etwas? Taschentücher, vielleicht Handschuhe oder eine Mütze?“, fragt Jenni. Der der Mann blickt sie aus finsteren Augen an und zieht weiter. „Es gibt eben solche und solche“, sagt sie und schaut schulterzuckend zu Holger. „Viele wollen einfach nur etwas zu essen und dann weiter ihr eigenes Ding durchziehen. Das ist auch in Ordnung. Uns ist es immer wichtig, allen gleich zu begegnen, und zwar auf Augenhöhe, also face-to-face.“

Kleine Geste, große Wirkung

Heute reichen die Lunchpakete nicht bis zum Ende. Um 16:00 Uhr erreichen Holger und Jenni den Hauptbahnhof, doch nur noch wenige braune Tüten befinden sich jetzt noch im gelben Wagen. Den letzten Menschen geben sie noch ein Paket Taschentücher, ein paar Fruchtriegel und neue Masken, dann ist die heutige Tour beendet. Nun geht es zurück zum Offenen Zentrum, wo sie die Bollerwagen bis zur nächsten Woche lagern. Während die meisten Menschen sich am Abend auf der heimischen Couch bei laufender Heizung aufwärmen können, bleiben einige dabei auf der Strecke. An einem Tag mit den Streetworkern wird klar: Menschen zu helfen kann auch einem selbst viel Freude bereiten. Jenni und Holger gehen auf in dem, was sie tun und entscheiden sich jeden Sonntag erneut dazu, den Menschen etwas Gutes zu tun. Jenni ist der Meinung: „Zwar lösen wir damit nicht die eigentlichen strukturellen und politischen Probleme, aber irgendwo muss man ja anfangen.“