Party, Krawall und Gaudi. Auch dieses Jahr wird der Saisonstart des Kölner Karnevals ausschweifend gefeiert. Die Stadt Köln rechnet mit noch mehr Karnevalisten als in den vergangenen Jahren. Gutes Wetter, viele Menschen und Unmengen an Alkohol. Das Konfliktpotenzial ist vorprogrammiert.
Lara de Reuver
„Komm, mach schneller, wir sind spät dran!“, ruft der 22-jährige Finn Dunger über seine Schulter, während er weiter, die noch nasse, Straße herunterläuft. Selbstverständlich hat er verschlafen, sich in fünf Minuten in sein „Peaky Blinders“ Kostüm gezwängt, und jetzt drängt die Zeit. Es ist 7.23 Uhr am Samstagmorgen, trotzdem hat sich der Auszubildende davon nicht aufhalten lassen, sein heutiges Ziel zu erreichen: den Karnevalsstart auf der Zülpicher Straße in Köln.
Aufbruch im Morgengrauen
„Das kann doch nicht hier schon losgehen“, beschwert sich der Auszubildende, als er in den Regionalexpress steigt und sich nach freien Plätzen umschaut, jedoch vergeblich. Im Februar ist der gebürtige Oberhausener gegen Mittag nach Köln zum Karneval gefahren, dass es nun schon so früh am Morgen überfüllt ist, überrascht Finn. Der Zug steuert seine nächsten Stationen an. Oberhausen HBF, weitere kostümierte Menschen steigen ein, Duisburg HBF, der Zug wird immer voller, Düsseldorf HBF, der Zug platzt. Gegröle, laute Musik und eine beißende Kombination aus Bier mit Schweiß steigt in seine Nase. Ein Angestellter der Bahn schreit die tobende Meute an, sie sollen die Musik ausmachen und die Schnapsflaschen wegpacken. Die Warnung wird ignoriert. Finn zuckt mit den Schultern und richtet die blonden Haare unter der typischen Schiebermütze. „Der hat sich seinen Morgen bestimmt anders vorgestellt“, kommentiert er den Bahnangestellten.
Ankunft an den Uni Wiesen
Um 8.46 Uhr erreicht der Zug den Südbahnhof in Köln. Finn strömt mit der Masse durch die abgesperrte Straße zum Eingang der Uni Wiesen. Er rechnet damit, dass es leerer sein würde, doch was er sieht, übersteigt seine Erwartungen. Es ist der erste Karnevalsstart, den der 22-jährige in Köln feiert. Egal, in welche Richtung er sich umblickt, erscheinen unüberschaubare Menschenmassen. Ständig wird Finn angerempelt und er kann kaum verstehen, was seine Freunde ihm sagen. 20 Minuten dauert es, bis sich Finn an den Einlass des Zülpicher Viertel durchkämpft. „Dieser Einlass zum Zülpicher Viertel ist und bleibt geschlossen!“, ertönt es über die Lautsprecher immer wieder. Erkenntnis schleicht sich in sein Gesicht, er hätte wie viele andere um fünf Uhr morgens aufstehen müssen, um noch hereinzukommen. Im vergangenen Jahr wurde das Zülpicher Viertel gegen 10 Uhr abgeriegelt. In diesem Jahr schon gegen 8.45 Uhr.
Helau! Und Alaaf! Et es so weit
Mit der Sonne kommt auch die gute Laune zurück. Finn trifft sich auf den Uni Wiesen mit Freunden, darunter auch die 21-jährige Valentina Ketzer. Die Blondine und ihre Freundinnen sind später angereist als der Rest der Truppe. Für die Mädchen ist es das erste Mal, dass sie den Karnevalsstart feiern, es sei was wirklich Besonderes für sie. Um Punkt 11.11 Uhr wird die „fünfte Jahreszeit“ offiziell gestartet. Die Verse von „Guten Morgen Barbarossaplatz“ werden von allen lauthals angestimmt. Es schwebt eine Ausgelassenheit und Freude über den verkleideten Köpfen.
Ein Zwischenfall kippt die Stimmung
Die Ausgelassenheit hält nicht lang, als Valentina und eine ihrer Freundinnen, welche namentlich nicht genannt werden möchte, kurze Zeit später zu Finn und ihrer Gruppe zurückkehrt. Er hat sich große Sorgen gemacht, dass Valentina die Gruppe nicht mehr finden würde. Telefonisch konnte er sie nicht erreichen, da das Netz von den vielen Menschen überlastet ist. Er fühlt sich verantwortlich, besonders auf seine Freunde achtzugeben. Sie erzählt aufgewühlt davon, wie ihre Freundin und sie beim Urinieren fotografiert und gefilmt wurden. „Da an den Dixie Toiletten so lange Schlangen waren, wollten wir uns im Gebüsch verstecken, da haben sie uns gesehen“, sagt Valentina. Sie konfrontieren die Täter, dabei öffnet einer der Beschuldigten das Oberteil von Valentinas Freundin auf offener Straße, so die 21-Jährige. Mit derartigen Fällen sind die beiden Mädchen nicht allein. In der veröffentlichten Bilanz der Kölner Polizei fertigen die Beamten und Beamtinnen bis 21 Uhr nach vorläufigen Erkenntnissen bislang 96 Strafanzeigen, davon überwiegend wegen Körperverletzungsdelikten, Sexualstraftaten und Taschendiebstahls. Im vergangenen Jahr waren von den 381 ausgestellten Strafanzeigen nur 15 wegen Sexualdelikten. Die Beiden tun es als „Ach, so ein Karnevalsunfall“ ab.
Der Heimweg nun mehr ein Schamgang
Der so vielversprechende Tag nimmt ein abruptes Ende. Finn, Valentina und der Rest der Gruppe treten einen verfrühten Heimweg an. Eng im Zug gequetscht, schaffen sie es zurück nach Oberhausen.
„Wieso habt ihr niemanden um Hilfe gerufen?“, fragt Finn die beiden Mädchen zurück am Sterkrade Bahnhof. Ein Schuldgefühl macht sich in ihm breit, er hätte wohl noch mehr auf die beiden achten müssen. Valentina guckt weg und überlegt. „Ein paar Leute standen um uns herum, niemand schien es zu interessieren, was da gerade passiert. Wir wurden im wahrsten Sinne entblößt!“ sagt Valentina. Bis heute unternehmen sie und ihre Freundin nichts gegen die Täter. Die Videos sind bis jetzt nicht von den Telefonen gelöscht.
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