Bildunterschrift: Chaos ist für Laura Normalität, Chaos ist ihr Alltag (Foto/Julia Werner)
Gelsenkirchen-Neustadt ist ein Problembezirk zwischen Chaos und Kriminalität, Kulturen und Klischees. Und ein Stadtteil, den viele Kinder ihre Heimat nennen. Laura Kuchcinski arbeitet als Sozialarbeiterin in einem offenen Treff. Mit Empathie und Geduld setzt sich Laura für Kinder im Viertel ein – „damit Kinder wieder Kinder sein dürfen“.
Eine Reportage von Julia Werner
„Ich muss jetzt los, ich muss Laura helfen.“ Keine Verpflichtung, kein Muss – doch trotzdem rennt die 8-jährige Nouramit den großen braunen Augen und den langen, fast schwarzen Haaren Laura entgegen. Nouras Namen, wie auch die der anderen Kinder, haben wir redaktionell geändert. Sie rennt raus aus dem Raum, raus aus dem Gebäude und über den vergitterten langen Weg hinunter auf die Straße. Mit sich zerrt Noura noch andere Kinder, um ihr zu helfen. Wieder kommt sie mit sechs oder sieben Müslipackungen, so hochgestapelt, dass nur noch ihre braunen Kulleraugen über den Rand der Müslipackungen lunzen können. Zielsicher wirft Noura die Müslipackungen auf den langen Holztresen, der den Aufenthaltsraum von der Küche trennt. Hinter ihr – eine Kolonne von Kindern, die Milchpackungen, Obst und Gemüse in den Händen tragen.
Es ist 14:20 Uhr, als Laura den Aufenthaltsraum des Jugendzentrums betritt. „Du bist zu spät“, ruft ihr die kleine Nouraentgegen, stemmt ihre geballten Fäuste in die Hüften und zieht ihre Augenbrauen zusammen. Einfach, um ganz böse zu schauen. Aber so einfach ist das gar nicht. Immer wieder findet sich ein kurzes Lächeln auf ihren Lippen wieder, was sie weniger böse und mehr frech wirken lässt. „Ich bin doch pünktlich“, antwortet ihr Laura. Eigentlich nicht. Eigentlich nicht mal fast. Aber Laura musste noch für den Mittagstisch einkaufen, denn es gibt heute Müsli zum Mittag.
Ein Treff mit einem besonderen Konzept
Laura Kuchcinski ist 35 Jahre alt und arbeitet im PNZ – Philipp-Neri-Zentrum in Gelsenkirchen-Neustadt seit 2017. Seit 2020 trägt sie dort die Verantwortung als Leiterin. Mit ihrer ruhigen, aber bestimmten Art ist sie für die Kinder eine vertraute Bezugsperson. Sie kennt die Namen fast aller Kinder, die hier ein- und ausgehen, fragt nach ihrem Tag oder schlichtet, wenn es bei einer Runde Tischkicker laut wird. Das Besondere am PNZ – „Wir sind ein offener Treff. Das bedeutet, jedes Kind zwischen 6 bis 13 Jahren kann kommen und gehen, wann es will, ganz ohne vorherige Anmeldung.“
Seit Anfang des Jahres wird der Treff nur noch am Mittwoch und Donnerstag angeboten. Wegen einiger Kürzungen der Stadt mussten zwei Tage gestrichen werden. Dabei ist der Treff eine wichtige Anlaufstelle für alle Kinder und Jugendlichen im Stadtteil. „Hier ist ja sonst nicht viel. Vielleicht ein oder zwei Spielplätze, sonst nichts“, erklärt Laura. Das Angebot und damit Struktur und Routine für die Jugendlichen brechen damit fast völlig weg. „Die Teenies können zwar immer noch zu uns kommen, aber nur noch am Donnerstag von 17:30 bis 20 Uhr – also die Hälfte der Zeit.“
Nach der Schule wird gespielt!
„Laura. Laura! Laura?“ – Die große Frau mit den blonden Haaren und der Brille mit dem durchsichtigen Rahmen kann kaum ihre Tasche hinter dem Tresen verstauen, schon kleben einige Kinder an ihr dran. Die allerwichtigste Frage:„Dürfen wir UNO spielen?“ Laura händigt der kleinen Mariam ein UNO-Spiel aus, die sofort zum nächsten Tisch flitzt und mit anderen Kindern beginnt zu spielen. Neben Laura arbeiten auch andere Sozialarbeiter und Aushilfen im PNZ. Eine von ihnen ist Aischa.
Ohne ein Hallo und völlig außer Atem kommt Lisa zu ihr gerannt. „Kann ich einen Fußball haben? Ich und Max wollen spielen“, sagt sie halb schnaubend, halb schreiend. Nickend überreicht Aischa ihr den Fußball, und sie stürmt wieder davon, raus auf die Wiese zu Max. Aischa zeigt auf die beiden spielenden Kinder. „Die beiden sind unsere einzigen deutschen Kinder“, sagt sie und wirft einen Blick auf den Rest der Kinder, die sich noch im Aufenthaltsraum befinden. Die meisten Kinder kommen aus Syrien, dem Irak und einige aus Rumänien oder Bulgarien. „Viele Kinder mussten flüchten und haben daher traumatische Dinge erfahren müssen“, fügt Laura an.
Schon früh engagiert sich Laura und arbeitet mit Kindern zusammen. Doch nach der Schule folgt eine Ausbildung in der Drogerie. Doch der Kundenkontakt reicht nicht – sie will mehr bewirken. Heute ist sie ausgebildete Sozialpädagogin. „Die Bachelorarbeit habe ich so vor mich hergeschoben. Das bedeutete Stress“, sagt Laura und zeigt grinsend ihre Zähne. Aber in diesem hellen Raum mit den gelben Wänden und einer Raumtemperatur, die wahrscheinlich weit die 20 Grad unterschreitet, gibt es keinen Stress. Also klar, Alltagsstress, aber das ist alles Normalität, das ist ihre Struktur.
Mittagessen als Teil der Routine
Ein wichtiger Teil von Struktur und Routine des PNZ ist der Mittagstisch. Ausnahmsweise dürfen Zahra und Mayla in die Küche und unterstützen Aischa bei der Vorbereitung des Mittagessens. Mit einem kleinen grünen Messer versucht Zahraganz vorsichtig, die Karotten zu vierteln, während sich Mayla mit dem Schneiden einer Gurke abmüht. „Ehrlich gesagt dauert die Vorbereitung mit den Kindern länger, aber wir wollen, dass sich die Kinder gebraucht fühlen und durch ihre Arbeit ihr Essen wertschätzen“, flüstert Aischa.
Der Mittagstisch findet im Aufenthaltsraum statt. In den Ecken stehen Bücherregale, gefüllt mit Kinderbüchern und älteren Gesellschaftsspielen. Ein großer hölzerner Tischkicker steht fast mittig im Raum. Darüber hängen drei blaue Lampen. Es ist ein funktionaler Raum, in dem nicht viel Ablenkung herrscht. Nur an den Fenstern kleben gebastelte rosa Einhörner, Engel und ein Hund mit einem pinken Donut in der Hand. Nur ein Weihnachtsbaum hat sich auf die Fensterscheibe verirrt.
„So, und jetzt alle aufbauen. Es gibt Mittag“, ruft Aischa den Kindern im Aufenthaltsraum zu. Es ist kurz still, alle horchen auf. Dann beginnt im Stimmengewirr der Kinder das kontrollierte Chaos. Noura läuft an Laura und Aischa vorbei und baut zusammen mit ihrer besten Freundin Ari einen Klapptisch auf. Einige Kinder holen die Stühle und andere bauen das Buffet auf. Laura wartet geduldig, bis sie sich etwas zu essen nehmen kann. Kein warmer Geruch, kein dampfendes Essen steht auf dem Tisch. Stattdessen gibt es Müsli, wie jeden Donnerstag, mit Früchten, Joghurt und ja – Schoki darf auch nicht fehlen.
Die Grundfinanzierung kommt vom Jugendamt, aber das Essen finanziert die Jugendeinrichtung über die Kinderhilfsorganisation Children for a Better World. Für manche Kinder ist es eine von wenigen regelmäßigen Mahlzeiten. In der Jugendeinrichtung möchte Laura den Kindern eine Art von Normalität bieten – dass die Kinder einen Ort haben, an dem sie ihre Sorgen vergessen können, und einen Ort bieten, „an dem Kinder noch Kinder sein dürfen“.
Es besteht langfristiges Vertrauen
Nach dem Essen gehen viele Kinder nach Hause. Zwischen den Kindern, die bleiben, stellt sich die Frage: Tischkicker zocken oder Werwolf spielen.
Kurz vor 18:00 Uhr ist das letzte Werwolfspiel vorbei, und die Kinder gehen nach Hause. Das ist nicht immer Normalität, wie Laura erklärt. Manchmal wollen die Kinder einfach nicht nach Hause gehen. „Dort müssen häufig die Mädchen auf die jüngeren Geschwister aufpassen und werden schon früh zu Hausfrauen erzogen.“
Außerhalb der Jugendeinrichtung haben Laura und das PNZ kaum Einfluss auf die Kinder und deren Familien. „Wir sind eben nur eine Freizeitpädagogik. Klar, manchmal ist das frustrierend, denn wir würden gerne noch viel mehr machen, aber die finanziellen Mittel sind begrenzt“, sagt sie, als sie das Licht ausmacht. „Du kannst nicht alle retten.“
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