Bildunterschrift: Jennifer Ruhnau und Cornelia Müller leisten mehr als Hilfe. Sie geben Wärme, Würde und ein Stück Normalität an jene zurück, die oft vergessen werden (Foto: Vivien Baxmann)
Als Streetworkerinnen setzen sich Jennifer Ruhnau und Cornelia Müller für Drogenabhängige und Obdachlose auf den Straßen in Gelsenkirchen ein. Ihr Ziel: Mehr Gerechtigkeit und Akzeptanz für diese Menschen.
Eine Reportage von Vivien Baxmann
Der kalte Wind pfeift durch die Caubstraße. Über allem liegt das unaufhörliche Dröhnen der nahen Schnellstraße. Hier, unweit der Schalker Meile, ragt ein klobiger Betonbau aus rotem Backstein hervor. Ein alter Bunker, der heute Zuflucht für Wohnungslose bietet. Hinter diesem Gebäude versteckt sich der Pavillon der Streetworker des ,,Arztmobils” von Gelsenkirchen.
Jennifer Ruhnau und Cornelia Müller sind Teil eines vierköpfigen Teams von Streetworkerinnen. Es ist ein Verein, der von der Stadt, der Ärztekammer und den kassenärztlichen Vereinigungen gegründet wurde. Ihre Mission: Dort zu helfen, wo andere wegschauen. Sie suchen Drogensüchtige und Obdachlose auf den Straßen auf, hören ihnen zu, helfen bei der Bearbeitung von Dokumenten und vermitteln sie an Hilfsangebote wie die Suchtberatung der Caritas oder das Kontaktzentrum in Gelsenkirchen.
,,Safer” Konsum
Mit einem Krachen gleitet die kräftige Schiebetür des weißen Transporters in ihre Schiene. Mit dem Arztmobil geht es für Jennifer und Cornelia los, hinaus in die Straßen von Gelsenkirchen.
Jennifer und Cornelia strahlen eine beruhigende Natürlichkeit aus, die sofort Vertrauen weckt. Ihre Augen suchen stets den Blickkontakt. Das schmale Lächeln der beiden wirkt warm und aufrichtig. Sie tragen khakifarbene Mäntel, auf deren Rücken in weißer Schrift klar und deutlich „Streetwork Gelsenkirchen“ leuchtet.
Im Inneren des Fahrzeugs sind stapelweise graue Kisten verstaut, gefüllt mit dicker Unterwäsche, Schlafsäcken und Hygieneartikeln. In einem separaten Rucksack liegen Crackpfeifen, Spritzen und Folien zum Rauchen der Drogen. „Damit verhindern wir, dass sich Krankheiten durch geteilte Utensilien ausbreiten“, erklärt Jennifer.
Der Motor brummt leise, während Cornelia über die lange Brücke der Schalker Meile in den Stadtteil Gelsenkirchen-Nord fährt. Das Ziel ist der Gelsenkirchener Bahnhof und Innenstadt. Ein bekannter Treffpunkt für Obdachlose und Drogensüchtige.
Wandel der Drogenszene
Auf dem Weg dorthin wirkt die Stadt trostlos: Graue Fassaden, Sperrmüllhaufen, die achtlos auf den Straßen verteilt sind und viele Menschen, die in dicken Jacken eingehüllt über die Straßen huschen.
Die Drogenszene in Gelsenkirchen hat sich in den vergangenen Jahren für die Streetworkerinnen spürbar verändert. Immer mehr Langzeitarbeitslose, Menschen aus schwierigen familiären Verhältnissen oder mit psychischen Erkrankungen suchen ihren Trost in Substanzen. ,,Es wird immer mehr auf offener Straße gedealt, auch dort, wo Kinder in der Nähe sind“, erklärt Jennifer während der Fahrt. Das macht es für die Streetworkerinnen besonders schwer, diese Menschen in eine Therapie zu vermitteln.
Der Transporter holpert über die kaputten Straßen, während Jennifer und Cornelia konzentriert die Umgebung beobachten. Beide wissen, wie enorm der tägliche Druck der Betroffenen ist. Rationale Entscheidungen können die drogensüchtigen Menschen dabei oft nicht mehr treffen. Während die Gesellschaft oft Vorurteile gegen diese Menschen hegt, sind Jennifer und Cornelia für sie da. „Wir versuchen, ihnen trotz der schwierigen Umstände immer wieder Perspektiven zu bieten, sie zu unterstützen und ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind“, sagt Jennifer.
Täglicher Kontakt
Als die Schiebetür mit einem schleifenden, metallischen Geräusch zur Seite gleitet, strömt ein aufdringlich künstlicher Zitronenduft in die Luft. Der Duft scheint aus den Mauern des Bahnhofs zu entgleiten. Die Stadt setzt ihn ein, um den beißenden Geruch der Urinpfützen zu überdecken, die sich vor dem Eingang des Bahnhofs ansammeln, wie Jennifer später erklärt.
Kaum ausgestiegen, werden Jennifer und Cornelia von fünf Männern begrüßt, deren Stimmen unter dem Vordach des Bahnhofs widerhallen. „Da seid ihr ja wieder!“, ruft einer von ihnen mit einem breiten Grinsen. „Die meisten wissen genau, wann wir kommen und freuen sich auf den Kontakt, fernab ihrer Sucht“, erklärt Jennifer.

Schon immer hatte sie eine Verbindung zu Obdachlosen. Besonders durch die Punkszene, in der sie früher aktiv war. „Selbst im Bus setzten sich die Obdachlosen zu mir“, erzählt sie und fügt mit einem breiten Lächeln hinzu: „Ich habe sie einfach immer schon angezogen.“
Zunächst absolvierte Jennifer eine Ausbildung zur Erzieherin, doch der Alltag wurde ihr zu eintönig. „Ich wollte eine Arbeit, die einen gesellschaftlichen Mehrwert hat“, sagt sie. „Etwas, wo ich die Welt vielleicht ein kleines Stück besser machen kann.“ Also entschloss sie sich, soziale Arbeit zu studieren, um anschließend als Streetworkerin zu arbeiten.
Schicksalsschläge auf den Straßen
Die Männer, allesamt in ihren 60er Jahren, halten jeweils eine Flasche Paulaner Bier und eine Zigarette in der Hand. Alle tragen einen dichten Bart. Ein leichter Bauch zeichnet sich unter ihren dicken Pullovern. Ihre Augen wirken müde.
Jennifer und Cornelia verteilen einige Süßigkeiten und Taschentücher. Ein starker von Zigarettenqualm liegt in der Luft. Die Stimmung ist heiter, begleitet von Gelächter und lockeren Sprüchen. Doch plötzlich wird es still, als einer der Männer sein Handy hervorholt. Auf dem Bildschirm erscheint das Foto eines Mannes, dessen Gesicht Jennifer und Cornelia vertraut ist.
„Er ist letzte Woche gestorben“, sagt der Mann leise. Jennifer und Cornelia halten inne, ihre Augen spiegeln Bestürzung. „Er war doch noch gar nicht so alt,“ murmelt Jennifer. Der Verstorbene, ebenfalls Mitte 60, ist an den Folgen seiner schlechten Gesundheit gestorben. Ein Schicksal, das ihnen bei ihrer Arbeit öfter begegnet.
Den Streetworkerinnen ist es wichtig, auch diesen Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, einen letzten würdevollen Abschied zu ermöglichen. Jährlich organisieren sie dafür eine ordnungsrechtliche Bestattung.
Tägliche Herausforderungen
Auf dem Weg durch die Bahnhofshalle in die Innenstadt herrscht eine rastlose Unruhe: Menschen eilen einander vorbei, Stimmen mischen mit dem gedämpften Dröhnen vorbeirauschender Züge.
Jennifer und Cornelia bahnen sich ihren Weg durch die Halle. Die Schicksale der Menschen, denen sie auf ihrer Arbeit begegnen, wiegen schwer. „Die meisten Dinge verarbeiten wir gemeinsam im Auto oder später in den Nachbesprechungen“, sagt Jennifer. Doch manche Fälle lassen sie auch zu Hause nicht los.
In den Hallen ist es angenehm warm, doch kaum tritt man hinaus, schlägt einem die eisige Kälte ins Gesicht. „Wenn du abends in dein warmes Bett gehst und daran denkst, dass draußen Menschen in der Kälte schlafen, ist das schon demütigend“, ergänzt Cornelia. Trotzdem schaffen sie es, mit diesen Gedanken umzugehen. Denn, der Gedanke, bedürftigen Menschen auf den Straßen helfen zu können, überwiegt.

Verständnis zeigen
Der Duft von frisch gebackener Pizza zieht durch die Gassen der Innenstadt und lädt zum Essen ein. An einer Straßenecke sitzt ein Mann auf einem zerschlissenen Kissen. In mehreren Jacken eingehüllt, murmelt er kaum hörbar vor sich hin. Passanten werfen ihm nur flüchtige Blicke zu.
Behutsam nähern sich Jennifer und Cornelia dem Mann. ,,Wie geht es dir?“, fragt Jennifer mit sanfter Stimme. Der Mann hebt den Blick, sieht sie misstrauisch an. Einen kurzen Moment später bricht es aus ihm heraus. Seine Worte überschlagen sich, seine Stimme wird kräftig laut, während er über die Politik und ,,die da oben“ schimpft, die seiner Meinung nach alles falsch machen. Seine Hände gestikulieren wild in der kalten Luft.
Doch Jennifer und Cornelia bleiben gelassen, ihre Gesichter entspannt und ihre Haltung offen. Sie unterbrechen ihn nicht, nick nur ab und zu und lassen ihn ausreden. ,,Verstehen, ohne einverstanden zu sein“, erklärt Jennifer. Es ist eine Gratwanderung, zuzuhören und gleichzeitig Distanz zu wahren. Doch Jennifer und Cornelia hören dabei ganz auf ihr Bauchgefühl.
Ankommen in der Realität
Aus einem nahelegenden Café strömt ein intensiver Duft von frisch gebrühten Kaffee. Cornelia verschwindet kurz hinein und kehrt mit einem dampfenden Becher zurück.
Für viele Passanten wirkt die Szene befremdlich. Doch die Unsicherheit, mit denen Menschen auf der Straße leben – nicht zu wissen, wo sie schlafen, wo sie etwas zu essen oder trinken bekommen – sind oft begleitet von Angst. ,,Diese Angst entfacht nicht selten Wut”, so Jennifer.
Deshalb können Jennifer und Cornelia die Vorurteile anderer Menschen nur schwer nachvollziehen. „Wenn Politiker und andere behaupten, diese Menschen leben nur auf Kosten des Staates, sollten für einen Tag selbst auf der Straße leben, um zu erfahren, wie es sich wirklich anfühlt“, sagt Cornelia.

Zwischen Kälte und Hoffnung
Die Kälte kriecht allmählich durch die Kleidung. Doch noch weitere Stunden gehen die Streetworkerinnen durch die Innenstadt, um Drogensüchtigen mit sauberen Nadeln und Folien auszuhelfen.
Zurück am Bahnhof bahnen sie sich ihren Weg zwischen Urinpfützen und dem stechenden Zitronenduft. Am Arztmobil angekommen, verstauen sie ihre Ausrüstung. Der Motor heult auf, sobald Cornelia den Zündschlüssel umdreht. Endlich können sie sich aufwärmen. Im Rückspiegel lassen sie den Bahnhof für heute hinter sich.
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