Bildunterschrift: Trauerbegleiter Malte Rupieper leitet eine Kindertrauergruppe bei Lavia (Foto: Charleen Deffner)
Ein Raum voller Kinderstimmen, mit dem das Unaussprechliche sich frei entfalten darf und zur Sprache kommt – der Tod. Malte Rupieper (27) ist Trauerbegleiter und hilft Familien, den Verlust von geliebten Menschen zu verarbeiten, um ein Leben führen zu können, das für immer anders ist.
Eine Reportage von Charleen Deffner
„Bei uns ist Leo gestorben, unser kleiner Bruder. Aber woran wissen wir leider nicht und mein Lieblingsessen ist Lasagne und ich bin sechs Jahre alt und heiße Mara.“ Mit heller Stimme und kindlicher Unbefangenheit startet ein kleines Mädchen mit blonden schulterlangen Haaren in die Trauergruppe von der spendenfinanzierten Familientrauerbegleitung Lavia gGmbH in Gelsenkirchen. Einmal im Monat leitet Malte mit seiner Kollegin und Lebenspartnerin Anna eine Kindergruppe. Älter als sechs Jahre ist hier niemand. Einige von den Kleinen besuchen noch den Kindergarten. An einem großen Holztisch in einer von Kinderpunsch-Duft durchzogenen Küche sitzen sieben Kinder, die schon zu Beginn ihres Lebens die Mama, den Papa oder ein Geschwisterkind verloren haben. Ihr lebenslanger Begleiter ist von nun an ein Schmerz, der einem eigentlich erst später begegnen sollte. Er verlangt, egal in welchem Alter, nach einem besonderen und achtsamen Umgang.
Schweigen als gesellschaftliches Problem
Wie das funktioniert, wie Trauer verarbeitet werden kann und welche Unterstützung Trauernden in ihrem Prozess guttut, haben wir allerdings nicht gelernt. Denn im gesellschaftlichen Kontext und Alltag ist der Tod ein rotes Tuch, wie auch Malte Rupieper immer wieder merkt. Er kommt viel zu kurz und fast nie zur Sprache. Deswegen ist der Kern der Kindertrauergruppe, die sich am späten Nachmittag versammelt hat, auch das reine Sprechen. „Das Verschweigen ist ein großes gesellschaftliches Problem, obwohl man beim Reden gar nichts falsch machen kann. Wenn ich jemandem eine ehrliche, ernstgemeinte Frage stelle, kann derjenige am Ende immer noch selbst entscheiden, wie und ob er darauf antwortet“, sagt der Trauerbegleiter, als er vom Küchentisch aufsteht und aus einer Getränkekiste zwei Flaschen Sprudelwasser für die Kinder holt.
Das Resultat des Verschweigens ist eine monströse Hemmung, Unsicherheit und ein höchst unangenehmes Gefühl, wenn wir tatsächlich einer trauernden Person gegenüberstehen. Dabei betrifft der Tod ohne Ausnahme früher oder später jeden einzelnen von uns. Jährlich trauern statistisch gesehen rund fünf Millionen Menschen um eine geliebte Person – allein in Deutschland, wie die deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin berichtet.
Ein Ort für Wärme und Gespräche
Im Lavia-Haus, dem Herzen der Familientrauerbegleitung, kann sich der Verlust mit jeder Emotion ungehemmt entfalten. Der Schmerz hat hier, in dem großen cremefarbenen Haus, mit den rostroten Dachziegeln, Platz zum Atmen. Den Hauseingang stützen vier große Steinsäulen. Ein runder Turm macht das illustre Erscheinungsbild komplett. Neben der hölzernen Haustür strahlt ein großer Weihnachtsstern ein warmes, regelrecht orangefarbenes Licht an die Hauswand. Im länglichen Eingangsflur hängt auf der linken Seite ein Kaugummi-Automat, gefüllt mit bunten, mundgerechten Kugeln. Der Blick an die Decke fällt auf einen hellblauen, wolkenbedeckten Himmel. Hinter seiner Sonne verbirgt sich eine kleine Glühbirne.
Der Stein der Gefühle
Es sieht nicht nur freundlich und gemütlich aus. Es riecht auch so. Der süßliche Geruch des Kinderpunsches strömt aus der Küche, wo die Trauergruppe gerade sitzt. Nachdem sich vorstellt und vom Tod des kleinen Bruders Leo berichtet, klammern sich ihre Finger an einen würfelförmigen Stein. Ihre rechte Hand liegt auf einer gelben Sonne, von der nur noch einzelne Strahlen hervorlugen. Die Linke schmiegt sich an ein rotes Herz. Jede Seite des Steins ist mit einem anderen Symbol bemalt: Konfetti, Wolke, Smiley, Herz, Tropfen und Sonne. ‚Das Tröpfchen heißt: ‚Ich bin traurig‘. Die Wolke heißt: ‚Geht so mittel‘. Die Sonne heißt: ‚Ich bin fröhlich“, ruft Maras Zwillingsschwester prompt in die Runde. Max, ein fünfjähriger Junge, ergänzt: „Das Konfetti ist alles zusammen.“ Der Stein soll den Kindern eine Hilfe sein, ihre Gefühle auszudrücken und sie vor allem einzuordnen. „Derjenige, der ihn hat, darf heute erzählen, mit welchem Symbol er da ist, wer gestorben ist, optional auch warum, seinen Namen verraten, sein Alter und sein Lieblingsessen“, sagt Malte. Er sitzt in blauer Fleecejacke und grüner Kappe, unter der einige braune Locken herausragen, vor dem Kopf des Tisches.
Trauergespräche mit positiven Gedanken
Mara hebt den Stein an, ihre Hände drückt sie ganz fest auf die Sonne und das Herz, als wolle sie diesen großen grauen Klumpen zusammenquetschen. Sie presst ihre schmalen Lippen zusammen, schwenkt ihre Arme symmetrisch ein Stück nach rechts, legt ihn mit einem dumpfen Klocken auf den Tisch und drückt ihn das letzte Stück über den Holztisch rüber zu Tischnachbar Benjamin.
„Ich bin Benjamin, ich bin sechs Jahre alt. Mein Papa ist gestorben und ich bin heute mit der Sonne hier, weil ich mich so auf die Trauergruppe gefreut habe“, sagt der Junge, dem seine ovale Brille beinahe von der Nase rutscht. „Ach ja. Pizza“, schiebt er noch schnell hinterher. Benjamins Mund zieht sich plötzlich mit der Vorstellung an sein Lieblingsessen breit auseinander, die Zähne blitzen hervor und es ertönt ein vorfreudiges und tief ausgeatmetes Grinsen. Vom Tod zu erzählen verbinden die Trauerbegleiter bei den Kleinen mit einem schönen Gedanken. Es wirkt gelöst und ungehemmt, nicht selten hallen Lacher durch die Küche.
Trauerbegleitung für die gesamte Familie
Dennoch klingt es unwirklich, derartige Sätze aus solch kleinen Wesen zu hören. Beispielsweise, wenn eine Fünfjährige eine Leukämie für andere Kinder als Blutkrebs einordnet. Als hätte sie irgendwo eine Geschichte aufgeschnappt. Ihre Realität ist aber kein Einzelfall. Sie hätten so viele Anfragen, dass bei Lavia mittlerweile ausgesiebt werden müsse, berichtet Malte. Es würden in der Regel nur noch Fälle angenommen, in denen enge Familienmitglieder gestorben sind, also Eltern oder Geschwister. Dann werde die gesamte Familie mit in die Trauerbegleitung einbezogen. „Die Eltern gehen in die Erwachsenengruppe, die Kinder in die Kindergruppe und die Jugendlichen in die Jugendgruppe. Am Ende ist es eben wichtig, wie du das in den Alltag transportierst, was du hier mitnimmst“, erklärt der 27-Jährige weiter.
Kinder sprechen miteinander über den Tod
Nachdem die letzten Kinder der Gruppe ihre innere Gefühlswelt und Gedanken preisgeben konnten, wuseln die Stimmen durcheinander. Aus dem hellen Stimmen-Wirr-Warr sticht der Klang einer Frage heraus: „Kleine Kinder können doch nicht so schnell sterben. Erst, wenn sie groß sind, oder?“, fragt sich ein Fünfjähriger. Ein Gedanke, der ihm vermutlich in den Kopf schießt, weil Mara nochmal vom Tod des kleinen Bruders Leo erzählt. Es entsteht ein Gespräch zwischen den Kindern.
Mara reagiert sofort und versucht zu erklären: „Doch, das geht. Leo war Null. Elf Monate. Und als er gestorben wurde, dann hatte er zwei Tage später Geburtstag. Und dann haben wir Geburtstag gefeiert. Aber dann hat es geregnet und wir mussten alle wieder rein.“ Trauerbegleiterin Anna fügt hinzu, dass auch kleine Kinder sterben können, wenn sie eine Krankheit oder einen Unfall haben. Dass der Tod in diesem Alter noch nicht richtig greifbar ist, blitzt ab und zu deutlich durch.
Wenn Eltern weinen
Während der anschließenden Bastelaktion fragt Malte, wer seine Eltern schonmal traurig gesehen hat. Mara, die gerade eine Weihnachtskugel bemalt, sagt mit konzentriertem Blick: „Ja, habe ich. Aber das wollte ich gar nicht sehen, weil das so traurig war.“ Malte erklärt ihr, dass es ganz normal ist, dann selbst traurig zu werden und manchmal auch zu weinen. „Ja, ich musste auch weinen, als meine Schwester geweint hat, weil da habe ich dann an Leos Lachen gedacht“, erinnert sich die Sechsjährige. Malte erklärt, dass auch Erwachsene mal traurig sind und dass es auch schön ist, wenn Eltern ihre Emotionen vor den Kindern zeigen. „Denn wenn man gar nicht traurig wäre, bei dem, was bei einigen von euch passiert ist, wäre das ziemlich merkwürdig“, gibt er zu bedenken.
Mara nickt, richtet ihren Blick aber weiterhin konzentriert auf die Weihnachtskugel. Insgesamt bemalt jedes Kind zwei Weihnachtskugeln, von denen eine an den Weihnachtsbaum nach Hause kommt und eine an das Grab. So könne eine gedankliche Verbindung von den Kindern zu dem Verstorbenen entstehen, die greifbar ist. Mara beschriftet ein herzförmiges Blatt Papier, das in die durchsichtige Kugel hineingelegt werden soll. Darauf steht: „Leo und Mara“ mit bunten Verzierungen. Ihre Hoffnung: „Vielleicht schickt mir Leo eine Nachricht zurück, wenn ich das an unseren Baum hänge“. Eine Nachricht für den Himmel.
Zum persönlichen Schutz der Kinder wurden die Namen geändert.
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