Bildunterschrift: Der Franzose Benjamin Volff durchsucht im Stadtarchiv Recklinghausen uralte Unterlagen für seine Dissertation in Strassbourg. Bild: Matti Stahlbaum
Benjamin Volff sammelt, sortiert und kartiert originale Schriften aus der Zeit der Ruhrbesetzung zwischen 1918 und 1930. Allein im Stadtarchiv Recklinghausen liegen 40 bis 50 dicke Aktenordner, die Volff durchsehen will. Für ihn ist es nicht nur Forschung, es ist eine Mission. Die Geschichte dieser Zeit soll nicht in Vergessenheit geraten, und Volff hat sich vorgenommen, sie zu bewahren. Doch angesehen der schieren Menge an Akten weiß er: Ein Leben reicht dafür kaum aus.
Von Matti Stahlbaum
Das Stadtarchiv Recklinghausen ist von außen eher unscheinbar. Nur ein Schild und ein Zechenrad können von außen einen Hinweis darauf geben, dass drinnen haufenweise kaum angesehene Akten, Briefe und Relikte lagern, die nur darauf warten angesehen zu werden. Benjamin Volff ist einer dieser Menschen, die sich die Zeit nehmen, um uralte Ordner durchzublättern.
Er sitzt in einem hohen, hellen Raum, der den Hauptteil des Stadtarchivs bildet. Hier stehen mehrere Schreibtische, nicht alle besetzt, doch an einigen sitzen Menschen. Die meisten älter. Immer wieder hört man leises Tastentippen. Hier und da raschelt Papier. Abgesehen davon ist es nahezu still. Eins haben alle hier gemein: Um sie herum liegen Ordner, Blätter und Papiere. Die Stimmung ist in etwa wie in einer Bibliothek. Man traut sich kaum etwas zu sagen.
Die Ruhrbesetzung
Volff nimmt einen der Ordner, die vor ihm liegen und schlägt ihn an einer markierten Stelle auf. Das Geräusch des alten Papiers bricht die Stille im Raum. „Das sind zum Beispiel fünf Seiten Möbel-Listen für einen französischen Oberst.“ Er bemüht sich leise zu reden, um niemanden zu stören. Neben der Liste ist eine Beschwerde eingeheftet. „Das Hausmädchen wollte im Winter 1924 zweimal nicht öffnen, weil keine Lieferung bekannt war“, sagt Volff mit starkem französischem Akzent und zieht dabei einen Mundwinkel nach oben.

Alle Dokumente, die Volff durchsieht, zeugen von der Ruhrbesetzung. Nach dem ersten Weltkrieg besetzten die Franzosen das Gebiet bis zum Rhein und auch bis Recklinghausen. „Damit waren die Franzosen überfordert“, erklärt Volff weiter.
Er selbst ist ebenfalls Franzose. „Ich komme aus dem Elsass, war da eigentlich Lehrer.“ Heute führt er Gruppen auf französisch durch das Ruhrmuseum in Essen und ist nebenbei immer wieder im Stadtarchiv Recklinghausen, um eine Dissertation zu schreiben. Denn für Volff ist wichtig, dass diese Zeit nicht in Vergessenheit gerät.
Das Problem Sprache
Volff setzt seine ihm tief auf der Nase aufliegende Brille ab und beugt sich über ein Papier im Ordner vor ihm. Er hat Mühe, einen Brief in Sütterlin, einer alten deutschen Handschrift, zu entziffern. „Das wird hier bis zu meinem Tod dauern“, sagt er mit seinem starken französischen Akzent und blickt auf. „Aber ich mach,was ich kann. Das ist auch Leidenschaft.“

Neben der Leidenschaft macht Volff das Ganze auch, um zu promovieren. Aus demselben Grund. Er dreht sich zu seinem Laptop und beginnt, einzelne Sätze aus dem handschriftlichen Dokument abzutippen. Volff stutzt und öffnet eine Internetseite. „Das ist mein Online-Wörterbuch.“ Sonst bekomme er die Texte teilweise nicht übersetzt.
Und auch damals, zur Zeit der Ruhrbesetzung, waren Übersetzungen oft ein Problem, erzählt Volff. „Die Franzosen haben 175 Verordnungen aufgestellt. Am Ende wurden die gar nicht mehr übersetzt, weil es niemanden gab, der es übersetzen konnte.“

Gewalt, Vergewaltigungen und Schlägereien
„In Frankreich interessiert das keinen mehr“, sagt Volff mit einem leichten Seufzer. Dabei sei das Erinnern besonders an diese oft vergessene Zeit besonders wichtig.
„Es kam oft zu Gewalt. Die französischen Soldaten wollten nicht hier sein.“ Er blättert eine vergilbte Seite um. „Es gab Vergewaltigungen, die Franzosen haben viel getrunken. Eigentlich waren alle unzufrieden.“
Und manchmal sei es auch zu kuriosen Situationen gekommen. Volff steht auf und fotografiert eine dunkel vergilbte, fast schon braune Seite. „Auf einem Schulhof haben die Franzosen eine offene Kiste mit Granaten stehen gelassen. Die Schule wusste gar nicht, was sie machen sollte.“
Für ihn bleibt wichtig, eine langfristige Erinnerungskultur der „Gewalt zwischen Franzosen und Deutschen“ in der Zeit zu fördern. Besonders weil sich in Frankreich „kaum jemand dafür interessiert.“
Aber warum das alles?
Aus einiger Entfernung sind Schritte zu hören. Ein Herr in Anzug und mit professioneller, aber freundlicher Ausstrahlung kommt auf Volff zu. Es ist der Leiter des Stadtarchivs Recklinghausen, Dr. Matthias Kordes.

„Archiv ist eine Pflichtaufgabe und oft auch wirklich interessant.“, erzählt Kordes, während er in sein Büro geht. Hier stapeln sich Bücher, Dokumente und Tausende Zettel in Ablagen und Regalen. Trotzdem wirkt alles sehr geordnet und aufgeräumt. An einem Kleiderständer in einer Ecke neben der Tür hängen weitere Sakkos, meist dunkel, einige Hemden und eine Jacke.
Kordes setzt sich an seinen Schreibtisch, wobei sein Sakko einige leichte Falten wirft. Mit überschlagenen Beinen beginnt er zu erzählen: „Wir haben hier eine Doppelfunktion“, damit meint er das ans Stadtarchiv angeschlossene Museum.
„Wir wollen und müssen Geschichte zugänglich machen“, sagt Kordes. Darum fänden auch über das Jahr verteilt immer wieder verschiedene Veranstaltungen statt. Immer mit Verbindung zu Recklinghausen und dem Ruhrgebiet.
Mittlerweile sind schon drei Stunden vergangen und Benjamin Volff liest unermüdlich weiter. Doch der Stapel der Papiere vor ihm scheint nicht kleiner zu werden. Er lehnt sich zurück, seiner Finger ruhen auf der Tastatur. Und doch wird er nicht aufhören. Auch wenn er niemals fertig werden wird.
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