Zölibat, Missbrauchsskandale, Diskriminierung gegen Frauen und Homosexuelle oder ein Luxus-Bischof – es sind nur einige Beispiele der Probleme in der katholischen Kirche. Schon seit einigen Jahren steht sie massiv in der Kritik und rückt immer mehr ins Schattenlicht. Viele Christen wenden sich von ihr ab. Doch einer hat den Glauben nicht verloren. Pfarrer Stefan Jürgens aus Ahaus nimmt in seinen Büchern kein Blatt vor dem Mund und kritisiert die Kirche scharf. Ist das Licht der Kirche bald erloschen?

Von Astrid Witte

Auf den ersten Blick wirkt der Ahauser Pfarrer Stefan Jürgens typisch münsterländisch: ruhig, zuvorkommend und sympathisch. Doch schon auf dem Buchcover „Ausgeheuchelt! So geht es aufwärts mit der Kirche“ wird deutlich: Hier spielt jemand mit dem Feuer und hat den Mut für klare Worte. Offen, ehrlich und provokant kritisiert er das System Kirche – aus Überzeugung zum Glauben an Gott. Denn auch den Pfarrern macht die Kirche mittlerweile das Glauben schwer. Wie soll es dann erst den Menschen gehen? Stefan Jürgens erzählt, was sich an der Kirche ändern muss und warum es sich lohnt, an sie zu glauben. Er spricht aus, was andere denken und trifft damit auf viel Zustimmung.

Aufgewachsen ist Stefan Jürgens im münsterländischen Borghorst. Früh wurde ihm klar, dass er Priester werden möchte. „Ich bin christlich aufgewachsen, bin gerne für Menschen da und möchte sie auf dem Weg zu Gott begleiten“, erinnert sich Stefan Jürgens. Er studierte Theologie und wurde 1994 zum Priester geweiht. Nach zahlreichen Stationen als Kaplan, Jugendseelsorger, geistlicher Rektor, Priester oder als Mitglied in Leitungsgremien, ging es Ende 2019 in die Pfarrei Ahaus. Bekanntheit erlangte der heute 53-Jährige als Sprecher beim „Wort zum Sonntag“ in der ARD und durch seinen Blog „Der Landpfarrer“. Neben seiner beruflichen Tätigkeit als Priester verfasste er als Autor mittlerweile über 20 Bücher. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal Bücher schreiben werde, aber als der Verlag auf mich zu kam, habe ich es gemacht. Das Schriftliche verändert dann doch eher das Bewusstsein“, freut sich Jürgens. Für überregionales Aufsehen sorgten dabei zwei Exemplare, die sich kritisch mit der römisch-katholischen Kirche auseinandersetzen. Das 2020 erschienene Buch „Ausgeheuchelt! So geht es aufwärts mit der Kirche“ schaffte es sogar für drei Wochen in die Spiegel-Bestsellerliste. „Es zeigt, dass die Basis wirklich eine Reform möchte“, freut sich Jürgens.

Zwischen Glauben und Systemversagen

In den vergangenen Jahren wurde der Aufschrei der deutschen Katholiken immer größer. Allein die weltweiten Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern, überwiegend durch Priester, sorgten immer mehr für öffentliche Aufmerksamkeit. Dazu kommen Diskriminierung gegenüber Frauen, Homosexuellen, Geschiedenen, die hohen Ideale der Kirche, strenge hierarchische Strukturen, Finanzskandale wie bei dem ehemaligen Limburger „Luxus-Bischof“ Franz-Peter Tebartz van Elst oder das Zölibat. „Es ist das Versagen der Kirchenleitung“, sagt Jürgens enttäuscht. Die Folge: Glaubwürdigkeitsprobleme und Kirchenaustritte. Allein im Jahr 2019 traten in Deutschland über 270.000 Menschen aus der katholischen Kirche aus – Rekord. Doch auch daraus lernte die Kirche nicht. „Die Kirche als Moralinstanz tut sich schwer, Fehler zuzugeben. Die Basis will Reformen, aber in der Leitungsebene ist die Angst vor öffentlichem Ansehen und noch einer Kirchenspaltung groß. Der Papst und die Bischöfe haben sich an das System Kirche angepasst, sie sind nicht mutig genug und vertrauen zu wenig an Gott“, meint Stefan Jürgens fest entschlossen. Er fordert von der Kirche transparente Strukturen, die Abschaffung des Zölibats, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen und eine Demokratie wie sie in der Bundesrepublik Deutschland herrscht. „Die Macht wird dadurch abgegeben“, betont Jürgens.

Doch von diesen Reformvorschlägen ist vorerst nichts zu sehen. Lediglich bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle tut sich was. Brauchen wir dann überhaupt noch eine Kirche? Ja, meint Stefan Jürgens in aller Seelenruhe. „Das Evangelium und Jesus Christus wird immer zeitgemäß sein. Ich bin überzeugt, dass der Glaube da ist und dieser weitergetragen werden muss. Außerdem ist die Kirche als Ort nötig für ein gesellschaftliches Miteinander und die Seelsorge wird auch immer gebraucht“.

Kritik findet viel Zustimmung

Obwohl Jürgens in aller Öffentlichkeit die Leitungsebene scharf kritisiert, unterstützt erstaunlicherweise auch das Bistum Münster als Leitungsinstanz die öffentliche Kritik des Pfarrers. In einer schriftlichen Stellungnahme heißt es: „Es gibt im Bistum Münster wie in der gesamten katholischen Kirche viele Amtsträger, die auch öffentlich die Notwendigkeit von Reformen in der katholischen Kirche betonen. Von daher ist es aus unserer Sicht völlig normal und in Ordnung, dass es auch von kirchlichen Amtsträgern öffentliche Kritik an den offiziellen Positionen der katholischen Kirche gibt. Wichtig ist dabei aus unserer Sicht immer ein respektvoller Umgang mit der Meinung des anderen“. Eine Kirche, die also ihre Probleme kennt, sich offen für Vorschläge zeigt und kritische Haltungen von Amtsträgern begrüßt, aber dennoch stur im „Weiter so“ lebt. „Die Kirchenleitung ignoriert die Bücher“, so Jürgens. Die Ahauser Pastoralreferentin Vera Naber hingegen begrüßt die Kirchenkritik. „Die Probleme liegen seit mehreren Jahren auf dem Tisch und da gehören sie hin. Es ist gut, dass jemand die Probleme deutlich anspricht“, so Naber. Trotz der Missstände ist sie froh, in der Kirche zu sein. „Die Kirche ist nicht nur eine Institution, die Werte sind wichtig, und der Glaube hat eine Botschaft. Die Kirche ist nicht perfekt, wir sind alle nur Menschen“. Sie selbst will keine Priesterin werden, aber sie ist dennoch der Meinung, dass es jedem und jeder freigestellt sein sollte. Auch die Menschen aus der Gemeinde Ahaus freuen sich über die Kritik ihres Pfarrers. „Endlich mal jemand, der die Probleme offen und direkt anspricht, Reformvorschläge bringt, die sich jeder wünscht und nicht alles unter den Tisch kehrt“, heißt es von Gemeindemitgliedern.

Der Zuspruch an Jürgens offener kritischer Haltung ist positiv, dennoch schweigen die meisten Amtsträger – aus Angst vor dem Verlust ihrer Arbeitsplätze. Stefan Jürgens ist nur einer von wenigen, die sich öffentlich äußern. „Viele Kollegen finden meine direkte Ansprache gut, würden aber nie selbst den Mund aufmachen – aus Angst. Die meisten sagen lieber nichts“, sagt Jürgens. Mit seinen Büchern bewegt er sich nach eigenen Angaben kirchenpolitisch auf Glatteis, dennoch lässt er sich nicht einschüchtern. Aufgeben gibt es für ihn nicht und Angst vor Sanktionen habe er auch nicht. „Die sind froh über jeden Pfarrer, den sie noch haben“, sagt Jürgens lächelnd und selbstbewusst.

„Dranbleiben! – Glauben mit und trotz der Kirche“

Und Stefan Jürgens ist keiner, der auf den Mund gefallen ist. Nach dem großen Echo des Buches erschien im August dieses Jahres sein zweites und letztes kirchenkritische Buch „Dranbleiben! Glauben mit und trotz der Kirche“. Hier spricht er über seine Enttäuschung über die Kirchenaustritte und warum es sich trotzdem lohnt, in der Kirche zu bleiben. „Weil Gott lebt! Wir brauchen eine Gemeinschaft der Gleichgesinnten. Es gibt einen Sinn im Leben und der Glaube ist hilfreich. Kirche ist so viel mehr als ein Priester, Taufe oder Hochzeit. Ich will nicht zerstören, ich will aufbauen. Wir müssen uns alle ändern“, sagt Jürgens vorwurfsvoll. Mit seinen zwei Büchern hat Stefan Jürgens alles gesagt. Wie sich die Kirche nun weiterentwickelt, wird sich zeigen. Vom Bistum Münster heißt es auf Anfrage: „Bischof Dr. Felix Genn ermutigt, etwa in der Seelsorge neue Wege zu gehen und Experimente zu wagen. Der Papst und auch die Kirche in Deutschland gehen den Synodalen Weg. Hierbei diskutieren Bischöfe mit Laien in aller Offenheit über die Frage, welche Reformen in Zukunft notwendig sind“. So schön wie der Fortschritt auch klingen mag, in der Realität gibt es immer weniger Pfarrer und Seelsorger. Die Kirche hält an ihren monarchischen Strukturen fest. Stefan Jürgens warnt davor, dass die Kirche sich durch fehlende Veränderungen selbst zerstören wird. Er meint: „Ich rechne damit, dass sich erst etwas in 20 Jahren ändern wird, zum Beispiel gibt es dann die erste Diakonin. Die Kirche hat und wird zu lange warten, bis es zu spät ist“. Trotzdem hält Jürgens an die Kirche fest – aus Glauben an Jesus. „Wir haben zu viel Kirche und zu wenig Jesus“.