Den ganzen Tag nur mit den Kindern basteln und spielen – dieser Ruf eilt Ergotherapeuten häufig voraus. Zoe Sausner hat in der Ergotherapie nicht nur ihren Beruf, sondern auch ihre Berufung gefunden und weiß: Es ist viel mehr als nur basteln.

Von Finja Greiving

Es ist ein heißer Nachmittag. Im Wartezimmer des Therapiezentrums Gelsenkirchen-Mitte sammelt sich die Wärme. Einige Mädchen und Jungen im Kindergarten- und Grundschulalter rutschen unruhig auf den grünen Stühlen herum. Ihre Mütter sitzen ruhig daneben. Vereinzelt dringt helles Kinderlachen durch die Wände. Aus einer Tür links neben dem Empfang tritt eine junge Frau mit zurückgebundenen dunkelblonden Haaren und hellblauen Augen. Sie setzt sich ihre Maske auf und geht zielsicher auf einen kleinen Jungen zu, der geduldig neben seiner Mutter wartet. Die junge Frau kniet sich vor ihm hin und stupst sanft sein Bein an. „Hallo Emin!“, begrüßt sie ihn. Er lacht schüchtern und versteckt sich unter seinem Hut. „Bist du noch zu müde?“, fragt sie. Emin nickt. „Na dann manchen wir dich gleich mal wieder wach!“

Alltagsspezialisten

Zoe Sausner hat vor kurzem ihre Ausbildung zur Ergotherapeutin abgeschlossen. Seit April arbeitet die 23-jährige nun im Therapie Zentrum Gelsenkirchen-Mitte. Die Ergotherapie ist dafür da, Patienten aus verschiedensten Alters- und Entwicklungsgruppen an den Alltag heranzuführen und zu unterstützen. Dafür gibt es verschiedene Therapiemittel. „Leider sind wir immer noch als Basteltanten verrufen“, seufzt Zoe. „Viele denken, wir basteln oder spielen nur mit den Kindern. Aber das hat ja alles einen Hintergrund.“ Der Ausdruck „Alltagsspezialisten“ sei für ihren Beruf viel passender, sagt sie. „Durch das Wort Basteltanten wird unser Beruf einfach abgewertet. Das ärgert mich total.“

In Zoes Arbeitsplan steht heute Nachmittag Therapie mit Emin an. Emin heißt eigentlich anders, aber seine Mutter wollte nicht, dass ihr Besuch in der Praxis bekannt wird. Ihr Sohn sei für ein vierjähriges Kind zu ordentlich und sauber, sagt seine Mutter. Er habe außerdem beim Basteln kein Feingefühl habe ein Problem damit manche Dinge anzufassen. Er möge zum Beispiel kein Wasser im Gesicht und kein Zähneputzen. Außerdem sei er besonders bei Fremden sehr unsicher.
Was Zoe heute mit ihm vorhat? Das wisse sie noch gar nicht ganz genau. Oft stelle sie sich erst in der Zeit von der Begrüßung bis zum Raum einen konkreten Plan auf – und das meistens ganz unterbewusst.

Ein Schritt in Richtung Vertrauen

Das passiert wohl auch jetzt, während Zoe Emins Hand nimmt und den schwarzhaarigen Jungen gemeinsam mit der Mutter den langen Flur entlangführt. Der Raum, in den sie heute gehen, sieht ein wenig aus wie eine kleine Turnhalle. Vor der Tür steht ein Ständer für Sportmatten. An der rechten Wand befindet sich eine Sprossenwand, an der linken eine Holzbank. Emin klettert direkt darauf und fängt an zu balancieren. „Erstmal brauche ich jetzt einen starken Mann, der mir beim Tragen hilft“, sagt Zoe und Emin hüpft von der Bank. Gemeinsam ziehen die beiden Knautschsäcke in den Raum. Zoe nimmt sich ein Holzpuzzle aus dem Schrank, schüttet die Puzzleteile auf die eine Seite und legt die Vorlage auf die andere. Dazwischen platziert sie die Knautschsäcke. „Es ist für mich wichtig, in den ersten Einheiten in die Bewegung zu gehen“, erklärt sie. „Bewegung ist immer auch ein Schritt in Richtung Vertrauen.“

Foto: Finja Greiving

Fast wie Detektiv spielen

Nach einem Erstgespräch mit Emin und seiner Mutter in der vergangenen Woche, schaut sich Zoe heute mithilfe verschiedener Übungen an, welche Problematiken Emin hat. „Das ist fast wie Detektiv spielen. Ich versuche herauszufinden, was Gründe für seine Unsicherheit bei Fremden Personen oder seine Schwierigkeiten, manche Dinge anzufassen sein können. Und dann überlege ich, wie wir seine Probleme therapeutisch angehen können“, sagt sie. Emin soll sich jetzt ein Puzzleteil nehmen, über die Knautschsäcke krabbeln und es auf der anderen Seite passend einsetzen. „Seine Mutter hat mir erzählt, dass er gerne puzzelt und ich arbeite gerne mit den Stärken der Kinder“, erklärt Zoe, während sie gemeinsam mit Emin über die Säcke krabbelt. Emin quietscht und lacht dabei. Ein Puzzleteil nach dem anderen verschwindet jetzt zielsicher in den Lücken, nur das Krabbeln macht noch Probleme. Emin läuft, hüpft oder rennt lieber über die Säcke. „Gerade ist er sehr unsicher“, sagt seine Mutter, die in der Ecke auf einem Stuhl sitzt. Zoe nickt wissend. „Ja, er versucht vieles durch seine Schnelligkeit zu kompensieren. Daran werden wir arbeiten.“

Foto: Finja Greiving

Schlangen und Tiger

Zoe hat inzwischen dünne blaue Matten geholt. „Planänderung – das passiert häufiger“, lacht sie. Sie legt sich neben Emin auf dem Boden. „Kannst du auch wie eine Schlange kriechen?“, fragt sie und macht zischende Schlangengeräusche. Emin versucht es, aber wie eine Schlange zu kriechen, mag er nicht.
In den nächsten Minuten entsteht ein ganzer Zoo in dem kleinen Raum. Zoe und Emin laufen auf allen vieren von einer Seite zur anderen, erst wie ein Tiger, dann wie ein Bär. Was für Emin nur ein Spiel ist, zeigt Zoe, bei welchen Bewegungsabläufen er Defizite aufweist und woran sie zukünftig arbeiten müssen.
Am Ende bekommt Emin einen pinken Luftballon. Den darf er mit nach Hause nehmen.

Schritt für Schritt

„Letzte Woche beim Erstgespräch war er ganz anders, nicht so aufgekratzt, sondern viel stiller“, sagt Zoe, nachdem sie Mutter und Sohn zur Tür begleitet hat. Vielleicht habe sie heute auch zu viel von ihm verlangt, überlegt sie. „Es kribbelt immer so in den Händen, wenn etwas nicht sofort funktioniert. Da muss ich mich dann zurückschrauben, weil ich oft viele große Ziele habe. Es ist wichtig, Schritt für Schritt an das Problem heranzugehen.“ Viel Zeit, über Emin zu sprechen bleibt aber nicht. Gedanklich muss Zoe schon wieder bei der nächsten Patientin sein – die wartet schon nebenan. Es bleibt nur kurz Zeit, um einen Schluck zu trinken, dann setzt Zoe erneut ihre Maske auf, betritt das Wartezimmer und macht sich auf den Weg zur nächsten Therapie.