Von Ricarda Kaspar

Der erste Aufstieg

Geboren auf Kohle. Wenn das Ruhrgebiet eine Sache benennen müsste, auf die es besonders stolz ist, wäre die allgemeine Antwort wohl: der Bergbau. Auch die Bochumer Straße kann sich dem wohl kaum entziehen. Schnell entwickelte sich der kleine Feldweg zur ersten Ückendorfer Straße mit Kanalisation und Beleuchtung und wurde so schließlich zum großbürgerlichen Viertel. Vom Erfolg des Bergbaus finanziert, säumten kunstvolle Fassaden, Direktorenvillen, die örtliche Sparkasse und das zweite Amtshaus 1880 die Straße.

Doch was bleibt, wenn die Kohle verglüht ist? Dreck und Asche. Mit dem Abbau des Bergbaus verpasste Gelsenkirchen den Absprung. Zurück blieb eine Straße mit Menschen ohne Perspektive. Die Jahre gingen ins Land und die fetten Zeiten der Bochumer Straße mit ihnen.

Der erste Untergang

Mit fehlenden Mitteln und verstreichender Zeit wuchs auch der Verfall. Die Straße verlor ihren einstigen Glanz. Gebäude und Menschen wurden gleichermaßen sich selbst überlassen. Das Ergebnis: Gelsenkirchens No-go-Area. Marode Häuser, gescheiterte Existenzen, wachsende Armut und steigende Kriminalität. Die Antwort der Stadt: Ignoranz.

Doch Gelsenkirchen kann einen derartigen Schandfleck unmöglich auf sich sitzen lassen.

Der zweite Aufstieg

Wie in jedem guten Märchen kommt nach einer scheinbar aussichtslosen Situation der Retter in großer Not. In diesem Fall hat die gute Fee, weder Flügel noch einen Zauberstab, dafür aber Mittel in Höhe von 170.158.200 Euro und einen 10-Jahres-Plan. Die gute Fee besteht aus der Stadt, europäischen Förderungsfonts, der Stadtbaugesellschaft (SEG) sowie diversen privaten Investoren und weiteren öffentlichen Trägern. Im integrierten Handlungskonzept zum Revitalisierungsgebiet Bochumer Straße (IHK) können sämtliche Pläne der Stadt bis ins kleinste Detail nachgelesen werden. Zumindest beinahe.

Die Stadt träumt von einem Kreativ-Quartier. Kunst, Kultur und eine neue Anwohnerschaft sollen her. Der Plan: die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der Bochumer Straße zu verändern und so für ein besseres Image der Straße sorgen.

Der Showroom des 1NULL7s ist Teil des Kreativ-Quartiers der Bochumer Straße.

Das Ziel: die Wiederherstellung der Bochumer Straße. So möchte die Stadt die No-go-Area aufwerten und zu einem attraktiven Lebensort für die Mittelschicht machen. Aber was bedeutet das für die finanziell schwache Anwohnerschaft?

Während im IHK sämtliche Sanierungsprojekte zwar hinreichend diskutiert werden, findet dieses Problem jedoch weniger Beachtung. Es geht um die finanzielle Hilfe für die Bestandsanwohnerschaft.

In der Kostenaufstellung finden sich nur zwei Punkte, die sich um einen möglichen Sozialplan drehen. Ein Betrag von 460.000 Euro steht bereits fest. Eine Erörterung, wie genau diese Gelder genutzt werden sollen, geht daraus jedoch nicht hervor. 

Dafür werden Betroffenen gleich sechs Angebote zum Thema Arbeitsmarktintegration vorgestellt. Ein wichtiges Thema, aber wie soll ich arbeiten, wenn ich nicht mehr wohnen kann?

Es stellt sich also die Frage: Wohin, wenn ich mir die Mieten der ehemaligen No-go-Area nicht mehr leisten kann?

Der zweite Untergang

Allzu weit muss man nicht gehen, um eine bezahlbare Alternative zur ehemaligen Bochumer Straße zu finden.

Gute 500 Meter von frisch sanierten Gebäuden entfernt erlebt man eine Zeitreise etwa zehn Jahre in die Vergangenheit. Die Ückendorfer Straße wird langsam, aber sicher zur neuen Bochumer Straße.

Diverse Ateliers säumen den unteren Teil der Bochumer Straße und tragen maßgeblich zum neuen Kreativ-Quartier bei.

Während die Bochumer Straße sich vom hässlichen Entlein in den schönen Schwan verwandelt, geschieht auf der Parallelstraße das komplette Gegenteil. Die Menschen werden ärmer, die Straßen dreckiger, die Häuser marode. Es wirkt, als ginge die Ückendorfer Straße für jeden Schritt, den die Bochumer Straße nach vorne macht, einen zurück.

Alles auf Anfang?

Es scheint als wiederhole die Stadt keinen halben Kilometer entfernt dieselben Fehler. 

Läuft man die Ückendorfer Straße entlang, ist schnell erkennbar, an welchem Punkt sie sich gerade befindet – Ignoranz.

Der Ückendorfer Hof ist ein Paradebeispiel für den Verfall der Ückendorfer Straße. Seit Jahren steht die Kneipe leer, modert langsam vor sich hin und bietet Passanten einen bleibenden Eindruck des Zustands der Straße.

Es kann sich demnach nur noch um ein Jahrzehnt handeln, bevor die Stadt auch hier ein integriertes Handlungskonzept veröffentlichen wird. Unser Märchen von den zwei Straßen wird zum Märchen einer unbelehrbaren Stadt.