Seit zehn Jahren steckt die Stadt Gelsenkirchen Fördermittel in die Bochumer Straße in Gelsenkirchen-Ückendorf. Das Ziel: ein hippes Viertel wie Neukölln und Kreuzberg im Herzen von Gelsenkirchen, das Künstler und vor allem Studenten anzieht. Fraglich ist nur, ob das „Projekt Bochumer Straße“ erfolgreich sein kann.
Von Paul Niehues
Pro
Sarah (Name geändert, da die Gesprächspartnerin unerkannt bleiben möchte) arbeitet in einer Agentur auf der Bochumer Straße und glaubt, dass sie in Zukunft ein hippes Viertel werden könnte.
Ein großes Gemeinschaftsprojekt
Also zum einen sind viele motivierte Menschen involviert, die Lust auf das Projekt und die Entwicklung haben. Die Leute kochen nicht ihr eigenes Süppchen, sondern ziehen auf großen Veranstaltungen ein gemeinsames Programm auf und helfen einander. Es gibt nicht nur Cafés, Bars oder Restaurants, sondern auch Galerien, Agenturen und Sozialprojekte. Ständig gibt es neue Veranstaltungen, um auf das Viertel aufmerksam zu machen.
Fördergelder sorgen für Aufschwung
Mit den finanziellen Mitteln der Stadt werden Häuser gekauft, abgerissen und saniert. Es wurden Wohnungen geschaffen für Menschen, denen es finanziell nicht so gut geht – zum Beispiel Studentinnen und Studenten. Es gibt mit der Heilig-Kreuz-Kirche, die kürzlich saniert wurde, einen neuen Ort für Konzerte, wo die Menschen hingehen können und anschließend zurück auf die Straße in die Bars, Cafés oder Restaurants. Dazu ist das Viertel nah an der Stadt und gut per Bus oder Bahn zu erreichen.
Zusammenhalt durch gute Nachbarschaft
Viele unserer Akteure, die die Lokale betreiben, haben früher woanders gewohnt und sind gependelt – inzwischen wohnen die alle hier, um näher dran zu sein. Außerdem gibt es den Wissenschaftspark nebenan, mit vielen Start-up-Unternehmen. Der hat zwar eine eigene Mensa, aber die Leute kommen in ihrer Mittagspause lieber auf die Bochumer und gehen zum Essen in die Cafés und Restaurants. Es gibt einen Gemeinschaftsgarten, der von allen Bewohnerinnen und Bewohnern gemeinsam gepflegt wird. Die Häuser haben alle große Hinterhöfe, die man von außen gar nicht sehen kann. Es gibt beispielsweise einen Hinterhofverleih, der Werkzeug verleiht, eine Werkstatt stellt und Werkelnden hilft. Da ergibt sich quasi eine neue Welt.
Contra
Olivier Kruschinski ist gebürtiger Gelsenkirchener und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Industrie- und Fußballgeschichte in Gelsenkirchen-Schalke. Regelmäßig führt er Gruppen im Rahmen der „Mythos-Tour“ durch den bekannten Stadtteil. Er sieht das Projekt der Bochumer Straße kritisch.
Der Hype ist nicht echt
Der Hype, den die Bochumer Straße zurzeit hat, ist mir zu sehr konstruiert und wird von den Fördermitteln und günstigeren Mieten aufrechterhalten. Die Frage ist ja, was passiert, wenn die Anreize wegfallen. Ich glaube: Dann wäre niemand mehr da. Viertel wie Kreuzberg oder Neukölln funktionieren autark, sprich: ohne dass Geld reingesteckt wird. Da prügeln sich die Leute buchstäblich, um dort zu wohnen oder ihren Laden aufzumachen. Dementsprechend muss man sich die Frage stellen, ob es sich überhaupt lohnt, das alles künstlich zu beatmen, um in zehn oder zwanzig Jahren zu schauen, ob es funktioniert.
Ein geschöntes Bild
Da sind wir beim nächsten Problem: Die Außendarstellung stimmt überhaupt nicht mit dem überein, was ist. Die ist mir definitiv zu sehr geschönt. Das Projekt wird extrem gehyped, aber auch nur, weil es unterstützt wird. Es ändert sich nichts an der sozialen Ungleichheit in diesem Viertel.
Das Ziel aus den Augen verloren
Stadterneuerung funktioniert nur, wenn ich das große Ganze im Blick habe. Wenn nebenan die Ückendorfer Straße weiter den Bach heruntergeht, wie sie es gerade tut, hat Ückendorf als Stadtteil überhaupt nichts gewonnen. Dann wird auch die Bochumer Straße auf lange Sicht nichts gewinnen und keine Strahlkraft erlangen.
Comments are closed