Eine klassische Primaballerina – das wollte Chiara Rontini nie sein. Sie wollte mehr sein, sie wollte alles sein, was Tänzer sein können. Ein Weg voller Hürden und Schweiß. Ein Spagat zwischen dem täglichen Erreichen der eigenen Belastungsgrenze und der Perfektion um jeden Preis. Traumberuf Ballerina?

Von Schirin Kheldoun

Eine dunkle schmale Treppe führt in den Keller des Musiktheaters in Gelsenkirchen. Es ist kahl und kühl. Aus der Ferne dröhnt Musik aus alten Boxen. Leichtes Knacken ist immer wieder zu hören. Beim ersten Blick um die Ecke sind Trainingsjacken, Schlappen und dicke Fellstiefel überall auf dem Boden zu sehen. Das Knacken der Boxen ist nun nicht mehr zu überhören. Die Füße sinken bei jedem Tritt etwas ein auf dem weichen Hallenboden.  Auch hier ist es kahl und alles erscheint kühl. Lediglich  eine Ballettstange entlang einer Seite und grelles Licht erfüllen den Raum. Am Ende des Raumes steht ein großer Bildschirm. Zu sehen sind Aufnahmen der letzten Vorstellung „Odysseus“. Ein zeitgenössisches Stück. Die gesamte Dance Company schaut sich unter den strengen Augen des Choreografen Giuseppe Spota das Video an.  Jede kleinste Bewegung wird genau analysiert. Jeder kleinster Fehler wird genau kritisiert. „Chiara, eins, zwei, drei. Vier, fünf, sechs. Du warst auf: eins, zwei, drei, vier. Fünf, sechs!“, bemängelt der Trainer.

„Ich will wachsen“

Für Chiara Rontini ist das Alltag. Bereits mit drei Jahren hat sie angefangen zu tanzen. Nach jahrelangem Ballett an einer privaten Company in Florenz, wollte sie mehr. Sie fing an mit Contemporary, Jazz, Flamenco und jedem weiteren Tanz, den sie finden konnte. „Je mehr du beherrschst, desto besser kannst du dich auf deine Rollen einspielen“, behauptet Rontini.  Mit 17 zog es sie dann in die Vereinigten Staaten. „Ich habe das Leben dort für drei Monate entdeckt. Mochte es nicht!“, sagt Rontini platt. In Europa würde mehr Wert auf die Technik gelegt und mehr über die Technik gelehrt, das habe ihr gefehlt. Für sie war also klar: Ihren Anspruch, sich physisch und athletisch zu verbessern, kann sie nur in Deutschland erreichen. Auch wenn sie dafür ihre Familie in Italien zurücklassen muss.Der Choreograf stoppt das Video. Die circa zehnköpfige Company verteilt sich im Raum. In der Luft liegt eine Mischung aus Deo und Schweiß. Die Musik dröhnt aus den alten Boxen. Alle erstarren in ihren Positionen. Mit jeder Bewegung sind knackende Knochen und quietschende Socken auf dem weichen Hallenboden zu hören. Immer wieder unterbricht die Stimme des Trainers. Verlangt wird: noch mehr Präzession in jeder Geste, noch mehr Perfektion in jeder Bewegung. Rontinis Blick ist dabei immer konzentriert. Ihr zierlicher Körper scheint bis in die Fußspitzen unter Kontrolle. „Ich will ein Buch voller Farben sein, nicht nur schwarz und weiß“, ist ihr Anspruch. Dafür heißte es auch, seine Company zu kennen, den Choreograf zu studieren und sich mental auf alles einzulassen.

Chiara Rontini beim Aufwärmen für ihr Solo. Foto: Schirin Kheldoun

Trainingsanzug statt Tutu

Denn was in den Vorstellungen so glamourös erscheint, ist harte Arbeit. Statt Tutu und perfektem Makeup heißt es jeden Tag: Schlabberlook und stundenlanges Training. Von dienstags bis samstags wird geprobt. Von zehn Uhr morgens bis sechs Uhr abends. „Jeder Tänzer kennt seinen Körper und muss ihm vertrauen“, sagt Rontini ernst. Genau deshalb braucht sie die Zeit für sich. Sei es nach dem Training oder Stunden vor der Vorstellung. „Ich bin nicht mehr jung und das Tänzerleben ist nicht lang“, zwinkert die 30-jährige. „Wenn du dann nach acht Stunden Training pro Tag, fünfmal die Woche, den Körper nicht in den Fokus stellst…“, sie schüttelt den Kopf und streicht über ihr in Tape gewickeltes Knie. Ihre Locken lösen sich immer mehr aus ihrem tiefen Dutt.  „Wir sind auch nur Menschen und müssen bewusst mit unserem Körper umgehen. Wenn Kopf und Körper dann nicht zusammen funktionieren, funktioniert die ganze Choreo der Gruppe nicht.“ 

Eine dunkle Stimme schallt durch die knackenden Lautsprecher. Es ist kahl und kühl. Rontini ist die erste, die aus der Mittagspause in den Raum zurückkehrt. Sie kreist ihre Knöchel, dreht ihren Kopf ein paar Mal hin und her. Mit einem Lächeln im Gesicht setzt sie sich in die Mitte des Raumen. Als nächstes wird ihr Solo geprobt. Die nächsten vier Stunden Training bis Feierabend. Bis es am nächsten Morgen wieder mit acht Stunden Training von vorne losgeht. „Du brauchst dieses Feuer in dir“, strahlt sie, während sie langsam beginnt ihren Lieblingspart zu tanzen. Sie schließt die Augen und bewegt sich voller Hingabe.