Bildunterschrift: Der Franzose Benjamin Volff durchsucht im Stadtarchiv Recklinghausen uralte Unterlagen für seine Dissertation in Strassbourg. Bild: Matti Stahlbaum

Benjamin Volff wertet originale Akten aus der Zeit der Ruhrbesetzung aus. Allein im Stadtarchiv Recklinghausen liegen 40 bis 50 dicke Aktenordner, die Volff durchsehen will. Doch damit wird er niemals fertig werden.

Von Matti Stahlbaum

Das Stadtarchiv Recklinghausen ist von außen eher unscheinbar. Nur ein Schild und ein Zechen Rad erinnern daran, dass drinnen haufenweise kaum angesehene Akten, Briefe und Relikte lagern, die nur darauf warten angesehen zu werden. Benjamin Volff ist einer dieser Menschen, die sich die Zeit nehmen, um uralte Ordner durchzublättern. 

Er sitzt in einem hohen, hellen Raum, der den Hauptteil des Stadtarchivs bildet. Hier stehen mehrere Schreibtische, nicht alle besetzt, doch an einigen sitzen Menschen. Eins haben alle hier gemein: Um sie herum liegen haufenweise Ordner, Blätter und Papiere. Die Stimmung ist in etwa wie in einer Bibliothek.

Die Ruhrbesetzung

Volff nimmt einen der Ordner, die vor ihm liegen und schlägt ihn an einer markierten Stelle auf. „Das sind zum Beispiel 5 Seiten Möbel-Listen für einen französischen Oberst.“ Daneben ist eine Beschwerde eingeheftet. „Das Hausmädchen wollte im Winter 1924 zweimal nicht öffnen, weil keine Lieferung bekannt war“, sagt Volff.
Alle Dokumente die Volff durchsieht, zeugen von der Ruhrbesetzung. Zwischen 1923 und 1925 besetzten die Franzosen das Gebiet des Ruhrgebiets und auch bis Recklinghausen. „Damit waren die Franzosen überfordert“, erklärt Volff weiter.

Bildunterschrift: 40-50 solcher Akten liegen zur Ruhrbesetzung allein im Stadtarchiv Recklinghausen. Bild: Matti Stahlbaum

Er selbst ist ebenfalls Franzose. „Ich komme aus dem Elsass, war da eigentlich Lehrer.“ Heute führt er Gruppen auf französisch durch das Ruhrmuseum in Essen und ist nebenbei immer wieder im Stadtarchiv Recklinghausen.

Das Problem Sprache

Volff setzt seine ihm tief auf der Nase sitzende Brille ab und beugt sich über ein Papier im Ordner vor ihm. Er hat Mühe einen Brief in Sütterlin, einer alten deutschen Handschrift, zu entziffern. „Das wird hier bis zu meinem Tod dauern“, sagt er mit seinem starken französischen Akzent und blickt auf. „Aber ich mach was ich kann. Das ist auch Leidenschaft.“

Bildunterschrift: Auf jeder Seite eine andere Handschrift, eine anders gesetzte Schreibmaschine. Manche Dokumente lassen sich nur mit viel Mühe entziffern. Bild: Matti Stahlbaum

Neben der Leidenschaft macht Volff das Ganze auch um zu promovieren. Er dreht sich zu seinem Laptop und beginnt einzelne Sätze aus dem Handschriftlichen Dokument abzutippen. Volff stutzt und öffnet eine Internetseite. „Das ist mein Online-Wörterbuch.“ Sonst bekomme er die Texte teilweise nicht übersetzt.

Und auch damals, zur Zeit der Ruhrbesetzung, waren Übersetzungen oft ein Problem erzählt Volff.  „Die Franzosen haben 175 Verordnungen aufgestellt. Am Ende wurden die gar nicht mehr übersetzt, weil es niemanden gab der es übersetzen konnte.“

Bildunterschrift: Vergilbt, verdreckt, verschmiert, sind die gehefteten Blätter in Volffs Ordnern. Bild: Matti Stahlbaum

Gewalt, Vergewaltigungen und Schlägereien

„In Frankreich interessiert das keinen mehr“, sagt Volff mit einem leichten Seufzer. Dabei sei das Erinnern besonders an diese oft vergessene Zeit besonders wichtig.
„Es kam oft zu Gewalt. Die französischen Soldaten wollten nicht hier sein.“ Er blättert eine vergilbte Seite um. „Es gab Vergewaltigungen, die Franzosen haben viel getrunken. Eigentlich waren alle unzufrieden.“

Und manchmal sei es auch zu kuriosen Situationen gekommen. Volff steht auf und fotografiert eine dunkel vergilbte, fast schon braune Seite. „Auf einem Schulhof haben die Franzosen eine offene Kiste mit Granaten stehen gelassen. Die Schule wusste gar nicht was sie machen sollten.“
 

Für Ihn bleibt wichtig, eine langfristige Erinnerungskultur der „Gewalt zwischen Franzosen und Deutschen“ in der Zeit zu fördern. Besonders weil sich in Frankreich „kaum jemand dafür interessiert.“

Aber warum das alles?

Aus einiger Entfernung sind Schritte zu hören. Ein Herr in Anzug und mit professioneller, aber freundlicher Ausstrahlung kommt auf Volff zu. Es ist der Leiter des Stadtarchivs Recklinghausen, Dr. Matthias Kordes.

Bildunterschrift: Damit Geschichte nicht in Vergessenheit gerät, gibt es Stadtarchive. Hier ein abfotografiertes Bild aus dem angeschlossenen Museum, ein Aufmarsch der Hitlerjugend vor dem Recklinghäuser Rathaus. Bild: Matti Stahlbaum

„Archiv ist eine Pflichtaufgabe und oft auch wirklich interessant“, erzählt Kordes, während er in sein Büro geht. Hier stehen Bücher und Ordner in Regalen an den Wänden. Auf seinem Schreibtisch liegen Zettel und zusammengeheftete Papiere. Alles wirkt sehr geordnet. An einem Kleiderständer in einer Ecke neben der Tür hängen weitere, meist dunkle Sakkos und eine Jacke.

Kordes setzt sich an seinen Schreibtisch, wobei sein Sakko einige leichte Falten wirft. Mit überschlagenen Beinen beginnt er zu erzählen: „Wir haben hier eine Doppelfunktion“, damit meint er das ans Stadtarchiv angeschlossene Museum.

„Wir wollen und müssen Geschichte zugänglich machen“, sagt Kordes. Darum fänden auch über das Jahr verteilt immer wieder verschiedene Veranstaltungen statt. Immer mit Verbindung zu Recklinghausen und dem Ruhrgebiet.

Mittlerweile sind schon drei Stunden vergangen und Benjamin Volff liest unermüdlich weiter. Doch der Stapel der Papiere vor ihm scheint nicht kleiner zu werden. Er lehnt sich zurück, seiner Finger ruhen auf der Tastatur. Und doch wird er nicht aufhören. Auch wenn er niemals fertig werden wird.