- Mein Vater nimmt zum 3. Mal am 100 Kilometer Lauf in Biel teil. Ich begleite ihn dabei auf dem Fahrrad.
- Der Start ist um 22 Uhr. Die Läufer müssen den Großteil der Strecke nachts laufen.
- Auf der Strecke kämpfen wir gegen Müdigkeit, Erschöpfung und Kälte.
Die Luft riecht frisch und ist vom Regen gereinigt. Der Boden ist nass und die Sonne geht gerade unter, als die Fahrradbegleitungen mit lautem Klingeln aufbrechen. Dann fahren wir als riesige Fahrradkolonne mit Polizeieskorte durch die abgesperrten Straßen Biels bis zu Kilometer 23 des 61. Bieler 100 Kilometer Lauf.
Mein Vater, Bernd Prior, nimmt jetzt zum 3. Mal an diesem Lauf teil. Ich begleite ihn dabei auf dem Fahrrad, habe Verpflegung und Wechselklamotten dabei und bin Motivationsstütze.
Ursprünglich Abschlussprüfung der Ausbildung zum Soldaten
Der Bieler 100 Kilometer Lauf wurde 1959 ins Leben gerufen. Damals jedoch als Abschlussprüfung der Ausbildung zum Soldaten. Mit der Zeit kamen auch die 56 Kilometer Ultramarathon-Strecke, ein Halbmarathon und der Kinderlauf hinzu. So entstanden die „Bieler Lauftage.“
Beim Start um 22 Uhr warte ich bereits in Lyss. Das Feld ist am Anfang zu eng, sodass Fahrräder dort nicht mitfahren dürfen. Doch die Wartezeit geht schnell vorüber. In Lyss sind wie an der Strecke Zelte aufgebaut und eine Band spielt Musik. Als um 11.30 Uhr der erste Läufer vorbeiläuft, stellen wir uns an die Straße um anzufeuern. Um kurz nach 12 Uhr kommt mein Vater und ich schließe mich ihm an. „Ich bin froh, dass du jetzt da bist“, begrüßt er mich, „Wenn man so alleine läuft, hat man zu viel Zeit darüber nachzudenken aufzugeben.“ Während wir uns noch über den ersten Halbmarathon unterhalten, verwandelt sich der Nieselregen, der seit 2 Stunden kommt und geht, in Platzregen. Als wir an der nächsten Verpflegungsstation ankommen, sind wir bereits bis auf die Haut durchnässt. „Nicht schlimm“, sage ich, „Wir haben ja schon ein Viertel hinter uns.“ Während mein Vater schon weiterläuft, ziehe ich mir noch eine Jacke an. Wichtig ist jetzt: nicht unterkühlen. Ich fülle auch unsere Trinkflaschen auf. Zwar gibt es Verpflegungsstationen, aber eine Notfallration ist trotzdem wichtig.
Als ich ihn einhole fange ich an alles zu erzählen, was mir einfällt, um von der Erschöpfung abzulenken. Die nächsten Stunden höre ich nicht auf zu reden und auch der Regen hört nicht auf. An der nächsten Verpflegungsstation rettet uns die warme Bouillon vor der Kälte. Des Weiteren gibt es Studentenfutter, Obst, Energieriegel und Getränke. „Es wird anstrengend, aber es ist noch zu früh um aufzugeben“, sagt mein Vater, bevor es weitergeht.
Die erste Marathonstrecke haben wir nach 4 Stunden und 20 Minuten geschafft
Um 2 Uhr hört es auf zu regnen und um 2.20 Uhr feiern wir den ersten Marathon. Bis 3 Uhr rede ich noch weiter, bis mein Vater sagt: „Julius! Es reicht jetzt! Ich muss mich jetzt mal konzentrieren.“
Bis Kirchberg, Kilometer 56, unterhalten wir uns kaum noch. Dort angekommen steigt die Stimmung wieder. Hier ist das Ziel für die Ultramarathon-Läufer. Musik, gute Stimmung, Verpflegung, sogar Liegestühle und Massagen gibt es hier. Trotzdem geht es für uns direkt weiter – wer einmal sitzt, hat es nur schwerer wieder aufzustehen.
Unsere Wege trennen sich ein zweites Mal
Nach Kirchberg führt die Strecke 10 Kilometer über den Ho-Chi-Minh-Pfad. Dieser ist schmal und bei Nacht nicht ungefährlich. Deshalb müssen die Begleiter außen herum. Bei unserem Abschied sieht mein Vater noch fit aus.
Der nächste Treffpunkt ist mitten im Wald. Während ich warte, werde ich müde und die Kälte, die langsam durch die nassen Klamotten kommt, hilft auch nicht. Einziger Lichtblick ist: Weiterfahren. Also schaue ich nach links. Hierher kommen die Läufer, deren Lampen mich jedes Mal blenden. Das einzige Geräusch im Wald ist das Klatschen, wenn eine Kopflampe vorbeiläuft. Doch mit der Zeit wachen auch die Vögel auf und beginnen zu singen. Um kurz vor 5 Uhr kommt mein Vater. Als ich ihm sehe, merke ich, dass er den Pfad nicht gut überstanden hat. „Gib mir mal die Cola, grade geht’s nicht gut“, sagt er schnaufend.
Innerhalb der nächsten 15 Minuten wird aus der Nacht Tag. Mit dem Tag kommt auch die nächste Verpflegungsstation. Hier setzt sich mein Vater hin und überlegt, trockene Socken anzuziehen. Doch schnell bemerkt er, dass diese bei nassen Schuhen nicht lange trocken bleiben. Also rafft er sich wieder auf und läuft weiter.
Kurz darauf erreichen wir Kilometer 70. „Nur noch 30 Kilometer“, juble ich. Erst bei Kilometer 75 bemerke ich, dass wir immer noch ein Viertel vor uns haben. Jetzt heißt es: Zähne zusammenbeißen.
Als der letzte Berg hinter uns liegt, ist es „nur noch ein Halbmarathon“, freuen wir uns. Das ist zwar immer noch viel, aber im Vergleich, zu dem was wir hinter uns haben, kommt es uns vor wie nichts. Jetzt geht es nur noch am Fluss entlang.
Mit der wärmenden Sonne im Rücken schöpfen wir nochmal Energie. Doch die hält nicht lange. Bei Kilometer 86 murmelt mein Vater: „Ich kann nicht mehr.“ Doch ohne zu stoppen nimmt er einen Schluck Cola und läuft weiter. Von jetzt an ist alles Kopfsache. Kurz darauf: „Ich kann nichts mehr essen, das schmeckt alles nicht mehr. Ich esse nur noch, weil ich was anderes machen muss als laufen.“
Doch bei Kilometer 90 steigt seine Stimmung wieder. Das Ziel ist in greifbarer Nähe. Es ist sicher, dass wir es unter 11 Stunden schaffen.
Auf dem letzten Stück überholen uns noch viele Staffelläufer. Und für jeden hat mein Vater noch motivierende Worte: „Das sieht super aus!“ Völlig fertig fängt er an, andere zu motivieren. Daraufhin feuern diese auch ihn an und sie treiben sich gegenseitig ins Ziel. Um 8.48 Uhr überschreiten wir die Ziellinie. Nach 10 Stunden und 48 Minuten hat er die 100 Kilometerstrecke zum dritten Mal geschafft. Auf die Frage, wieso er überhaupt 100 Kilometer läuft, antwortet er: „Weil mir 100 Meilen zu viel sind!“
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