Fast zwei Jahre ist es her, dass Ukrainer auf der Suche nach einer sicheren Bleibe nach Deutschland kamen. Doch das Leben mit fremder Sprache in einem unbekannten Land fällt nicht leicht.Das möchte Sozialarbeiterin MarghaleiNayebkhail-Popal gerne ändern, damit die Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Marienhospital zu einem Zuhause für seine Bewohner wird.

Von Philippa Baltronat

„Na, wer erkennt mich?“ Lautes Kindergeschrei tönt durch den festlich geschmückten Raum. Es ist eine fremde Sprache, aber das hält hier niemanden auf. Manchmal braucht es keine Worte, umeinander zu verstehen. Der bärtige Mann tritt mit großen Schritten samt Bischofsstab zu den Kindern. „Nikolaus ist mein Name. Könnt ihr mir ein Lied singen?“ Wie ein Echo hallt die russische Übersetzung nach. Feierlich stimmen alle in die weihnachtlichen Klänge mit ein. Es ist ein Stimmengewirr aus deutsch und russisch. Sie singen und klatschen miteinander, für einen Moment ist es egal, dass sie in einem fremden Land sind und sich erst seit kurzer Zeit kennen. In diesem Moment ist alles gut. Der Nikolaus ist in der Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Marienhospital angekommen.

Eine Frau für alles

Zufrieden schaut Marghalei Nayebkhail-Popal den verkleideten Nikolaus an. Sie ist eine der beiden angestellten Sozialarbeiterinnen in der Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Marienhospital Altenessen. Hier heißt sie für alle nur Frau Popal. Die Aufgaben der Sozialarbeiterin sind vielfältig: „Ich versuche die Bewohner hier zu unterstützen, wobei es nur geht. Dazu gehört es auch, ein angenehmes Umfeld zu schaffen, indem sich alle wohlfühlen.“ Das hat sie mit der Adventsfeier heute geschafft. Es sind um die 70 Bewohner in die weihnachtliche Cafeteria gekommen, um Nikolausabend nicht in ihren kleinen Zimmern zu feiern.

Für diesen Beruf brauch man Härte

Die Fachpädagogin Popal ist fast seit Aufbau der Unterkunft mit dabei. Mit ihrem kurzen braunen Haar und ihrer eleganten Kleidung, wirkt die kleine Frau taff und herzlich zugleich. „Härte braucht man bei diesem Job. Anfangs konnte ich Nächte nicht schlafen, weil mich die Schicksale so mitgenommen haben. Mittlerweile bin ich abgehärtet und trenne Beruf und Alltag streng voneinander.“, erklärt sie. Daraufhin muss sie lachen: „Das Einzige, was mich jetzt mitnimmt, ist meine pubertierende Tochter.“

Frau  Marghalei Nayebkhail-Popal bei ihrer Arbeit im Büro, Foto: Philippa Baltronat

Das Team mit 12 Einrichtungsbetreuern umsorgt drei Etagen mit mehr als 150 Ukrainern. Die meisten Wände sind weiß. Silberne Geländer und das gläserne Schwesternbüro erinnern an die damalige Krankenhauszeit. Dekoration ist aus Brandschutzgründen verboten. Nur vereinzeln hängen selbst gebastelte Weihnachtsmotive. Rote Kerzen und goldene Sterne lassen die kahlen Wände etwas wärmer erscheinen. Der sterile Duft von Desinfektionsmittel liegt in der Luft.

Auf den Fluren herrscht Leben

Erst auf den zweiten Blick bemerkt man, wie lebendig es hier ist. Eine Bewohnertür steht offen, zwei ältere Damen unterhalten sich. Aus dem Zimmer spielt Musik, aus einem anderen hört man Kinderlachen. Währenddessen unterhalten sich die Einrichtungsbetreuer ausgelassen miteinander. „Schauen Sie Frau Popal, ich habe Süßigkeiten aus meinem Urlaub mitgebracht, probieren Sie.“, ruft eine der Betreuer ihr entgegen. Freudig nimmt die Sozialarbeiterin eine mit Zucker übergossene Nuss entgegen: „Ist das mit braunem Zucker? Das schmeckt aber köstlich.“

Offene Sprechstunde für alle Bewohner

Fast täglich finden von 10 bis 12 Uhr Sprechstunden für alle Bewohner statt. Die beiden Sozialarbeiterinnen wechseln sich damit ab. Heute ist die Kollegin von Nayebkhail-Popal an der Reihe. In dem kleinen Besprechungszimmer hängt noch eine ehemalige OP-Lampe. Das sich die Bewohner hier regelmäßig ihr Herz bei den Sozialarbeitern ausschütten, ist bei einer solchen Triste kaum vorstellbar. „Manchmal wird es wirklich sehr emotional. Die Menschen haben viel erlebt.“, erzählt die Sozialpädagogin, während sie ein paar Taschentücher in ihrem Schrank verstaut. „Gestern hatte ich Keine Taschentücher zur Hand. Da musste etwas Küchenrolle hinhalten.“

OP-Lampe im Besprechungszimmer, Foto: Philippa Baltronat

Helfen, wo es nur geht

Die Anliegen in den Sprechstunden unterscheiden sich von Fall zu Fall. Heute geht es vor allem um formale Dinge. Eine Bewohnerin kommt mit einem Ordner und einem ganzen Stapel voller Briefe in die Sprechstunde. Ihre Dolmetscherin muss lachen: „Diese ganze Mappe mit Papieren hat sie in den letzten sechs Monaten angesammelt. In der Ukraine reicht das für ein ganzes Leben.“ 

Sozialarbeiterin Popal erledigt vor allem für ältere Bewohner viele private Angelegenheiten. Gleich dreimal macht sie sich auf die Suche nach einem Bewohner, damit er ihr eine Unterschrift gibt. Als sie ihn endlich findet, reagiert sie entspannt und fröhlich: „Genau Sie habe ich gesucht.“

Die Sprachbarriereerschwert das Miteinander

Auf dem Weg nach unten begegnet die Sozialarbeiterin einer ukrainischen Familie im Aufzug. Durch die Sprachbarriere können sie sich nicht unterhalten. Ein Lächeln muss reichen. „Es ist schade, ich treffe die Bewohner, will fragen, wie es ihnen geht, aber es funktioniert nicht wegen der Sprache.“ Immer wieder sieht man sie mit ihrem Handy in der Hand, sie spricht etwas auf Deutsch hinein und es wird auf russisch übersetzt. „Wichtige Gespräche funktionieren so, aber das ist keine Art, sich einmal nett zu unterhalten.“

Alle packen mit an

In der Cafeteria laufen die Vorbereitungen für das anstehende Adventsfest bereits auf Hochtouren. Den Essbereich schmücken Ehrenamtlichen und Bewohnern mit selbst gebastelten Sternen, ukrainischen Girlanden und einem Adventskranz. Es riecht nach Mandarinen und Lebkuchen. Als Marghalei Nayebkhail-Popal in den Raum tritt, stürmen direkt alle auf sie zu. „Wo sind die Russischen-Flyer?“, „Hast du schon den Nikolaus gesehen?“, „Konntest du mit dem Cafeteria-Personal reden?“, schallt es auf sie ein. „Ich bin das gewohnt, wenn ich einen Raum betrete, haben alle immer direkt Fragen an mich“, erzählt sie gelassen. Die Sozialarbeiterin ist sofort in ihrem Element. Bestimmt weist sie alle zurecht und packt beim Aufhängen der Sterne selbst mit an.

Geschmückte Cafeteria mit Ukrainefahne für mehr Weihnachtsstimmung, Foto: Philippa Baltronat

Margareta Schappat, eine ehrenamtliche Helferin, befestigt zusammen mit einem der Einrichtungsbetreuer den Weihnachtsbaum. Viele der Einrichtungsbetreuer sind selbst ehemals Geflohene. Deutsch sprechen sie teils nur stockend. Beim gemeinsamen Aufbauen stört es aber nicht. Die beiden verstehen sich mit Gestiken und Zeichen. Als der Weihnachtsbaum aufrecht steht, stellen sie sich stolz daneben. „Es ist ein Gefühl von Gemeinschaft, dass uns alle hier verbindet. Ich kann sehen, wie die Bewohner aus sich herauskommen und vielmehr strahlen als noch vor ein paar Monaten.“, erzählt Schappat.

Heute soll niemand allein sein

Nach dem gemeinsamen Aufbau ist es so weit, Mütter, Kinder und Senioren stürmen in den geschmückten Raum. Während einige direkt nach einem großen Tisch mit möglichst vielen Knabbereien suchen, verteilt eine Mutter mit ihrem Kind Lebkuchen aus einer Plastiktüte. Auf den Tischen verteilt liegen russische Infoblätter, die die deutsche Adventstradition erklären. Eine ältere Frau sitzt zunächst allein an einem Tisch. Als die Sozialarbeiterin das sieht, geht sie auf sie zu. „Heute soll niemand allein sein“, spricht sie in ihr Handy. Bei der Übersetzung muss die Dame nicken. Die Sozialpädagogin hilft ihr auf und bringt die Dame zu zwei weiteren Frauen. In der neuen Gruppe wird sie herzlich aufgenommen, gemeinsam machen sie sich über die Kekse her, klatschen und singen zu der Musik. 

Für Marghalei Nayebkhail-Popal ist die Veranstaltung ein Herzensthema: „Alle Bewohner haben in den letzten Monaten viel durchgemacht. Während der Feiertage ist es besonders schwer, von seinen Liebsten getrennt zu sein. Umso wichtiger ist es hier die Gemeinschaft zu stärken und die Flüchtlingsunterkunft zu einem Zuhause zu machen.“ Während die Kinder sich über ihre geschenkten Schoko-Nikolause hermachen und die Mütter ein Foto nach dem nächsten schießen, kann die Sozialarbeiterin das erste Mal an diesem Tag durchatmen. Obwohl das Fest über ihre Schicht hinausgeht, bleibt sie hier und macht sich erst später auf den Weg nach Hause zu ihrer Familie. In ihren Gedanken plant sich schon das nächste Fest.

Titelbild: pixabay